Der Sturzflug des Falken


Sieben Erzählungen von Boris Jewsejew
aus dem Russischen von Johanna Petters und Hannelore Umbreit

Boris Jewsejew gehört zu den wenigen russischen Schriftstellern unserer Zeit, die ihre russische Seele nicht deklarieren, sondern durch ihren Stil und ihr Schicksal ausdrücken.

Der Band „Der Sturzflug des Falken“ mit sieben Erzählungen ist die erste deutsche Übersetzung von Jewsejews Prosa. In diesem Buch unternimmt der Autor eine atemberaubende Reise durch die geistige Landschaft des heutigen Russland. Wir ahnen die unheimlichen Gefahren, die Boris Jewsejew im Geist der Jetzt-Zeit wittert. Er konfrontiert uns mit der Verwundbarkeit und der Grausamkeit des Lebens, indem er es uns mit den Augen eines Falken, eines Hammels, eines Fisches sehen lässt. Vergangenheit und Gegenwart fließen ineinander, und aus diesem steten Fluß des Daseins erschafft Boris Jewsejew literarische Bilder und Visionen von beängstigender Realität und zugleich archetypischer Zeitlosigkeit.

220 Seiten, gebunden mit Umschlag
ISBN:3-9501769-2-6
Euro 15,00

Leseprobe

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Die Macht der Hunde

Wie die Hunde

„Wie die Hunde! Richtig, als ob sie Köter wären … Und so was nennt sich Menschen. Hetzen! Und hecheln! Und immer schön die Schnauze nach oben! Wollen wohl zum Mond hoch reichen, auch noch zum Mond …“
Den Abhang hinaufzuklettern und dazu im Laufen vor sich hin zu murmeln, war nicht leicht. Doch der bullige, plumpe Mann im graublauen offenen Mantel, auf dem Kopf ein plattgedrücktes Käppi, mit Hängebacken, die sogar von hinten zu sehen waren, – er murmelte und murmelte. Kann sein, dass er  sich so beruhigen wollte, vielleicht war es aber auch nur ein unwillkürliches Ausstoßen von Worten, wie es man es immer wieder in schwierigen Lebenssituationen findet …
Sein Auto hatte der Bullige auf der Chaussee stehenlassen. Die Schnauze des Gefährts stupste in den Straßengraben, das Hinterteil ragte auf die Fahrbahn, machte das Vorbeikommen schwierig. Zweimal schon hatte sich der Mann bei seiner Flucht danach umgedreht. Er hätte es auch ein drittes Mal getan: Es tat ihm leid um das Auto!
Aber unten auf der Chaussee, neben dem schmutzbespritzten Jeep, machten sich bereits drei oder vier Verfolger zu schaffen. Für einen dritten Blick zurück blieb keine Zeit.
Die Mantelschöße des Mannes verhedderten sich im Gesträuch, trockenes, storres Gras zerstach die Knöchel seiner bloßen Beine, doch endlich war der Weg nach oben geschafft und er stolperte hastig in ein undurchdringliches, stickiges Fichtendickicht. Immer noch verfluchte er die Menschen, stieß weiter Worte hervor, anständige und unanständige, bis das Dickicht plötzlich endete und er sich an einem Steilhang, der anderen Seite der unerwartet schmalen Bergkuppe, wiederfand. Hier erstarrte der Bullige für einen Augenblick, wie ein grauschwarzes Quecksilberkügelchen an der Tischkante verharrt. Vor ihm in der Niederung lag eine kleine Wiese in Grün und Gelb. Dahinter türmte sich terrassenförmig ein neuer Wald auf. Durch den  Saum aus Bäumen glänzte stählern ein Dreieck Wasser.
Der Bullige drehte sich verstohlen um: Noch kam ihm niemand nach.
„Glucken da am Auto rum. Müssen denken, ich bin in ein anderes umgestiegen!“
Der Bullige entkrampfte sich ein wenig im Inneren, erleichtert blies er den Schweiß von der Oberlippe und hob die Augen. Über ihm am schmutzig verfleckten Herbsthimmel zog der morgendliche Mond seine Bahn, schwerfällig und durchscheinend wie Zigarettenpapier.
Der Bullige riss den Blick los, schaute vor sich, nach unten. Dort regte sich plötzlich etwas auf der Wiese, nahe am Wasser – riesig-rot wie der Rand einer Feuersbrunst.

Die Meute

Die dahinrasende Meute schien von Feuer überglänzt. Es war, als durchfahre ihr Lauf die in die Niederung geduckten Häuser und das Gesträuch wie ein furchtbarer Steppenbrand.
Natürlich gab es darin auch gescheckte und schwarz gefleckte Hunde, aber die Grundfarbe der über den Boden fliegenden Meute war feuriges, flammendes Rot.
Der Bullige sah die Meute und konnte doch anfangs nicht begreifen, was er sah. Als es ihm dämmerte, riß er den Körper herum, wieder zum Fichtendickicht hin.
Doch es gab keinen Weg zurück: Hinter sich hörte er bereits das Krachen brechender Zweige, und – zwar noch in einiger Entfernung – Stimmenhall. Da wandte der Bullige den aufmerksamen Blick erneut der Meute zu. Und ihr Lauf wollte ihm auf einmal wie eine fröhliche Zirkusnummer scheinen. Wie ein erwartungsvoll heranpreschender, verspielter Haushund kam ihm die Meute plötzlich vor!
Der bullige Mann hieß Iwanjajew. Er kannte sich aus mit Hunden, deshalb beschloss er: Er musste auf die Wiese hinunter, zu ihnen hin! „Die laufen vorbei. Haben was ganz anderes vor … Hunde riechen, ob man vor ihnen Angst hat oder nicht. Und notfalls … „ Iwanjajew spähte nach links, zu einer in der Nähe des Steilhangs an einem Erdloch wachsenden dichten, noch saftiggrünen Linde, „… notfalls kann ich mich ja auf den Baum retten“.
Die Menschen schienen ihm jetzt schlimmer als die Hunde. Sie waren schlimmer! Bereits fünf Stunden lang jagten sie Iwanjajew durch Stadt und Land, trieben ihn auf einen unausweichlichen, qualvollen Tod zu.
„Menschen sind Hunde. Hunde sind die wahren Menschen. Besser, besser als sie!“ fiel dem Bulligen ein Gesprächsfetzen ein, den er einmal in Moskau, in einer Runde von Musikern aufgeschnappt hatte. Damals wie heute sprach ihm das Gesagte aus dem Herzen.
Iwanjajew lauschte noch einmal, hörte Zweige krachen, Stimmen, so nahe, dass man sie fast verstehen konnte, Flüche – und rutschte auf dem Hosenboden den Steilhang hinab, zu den Hunden …

Die im Nacken

Diejenigen, die Iwanjajew im Nacken waren, vernahmen plötzlich wildes Jaulen und Zähneknirschen, hörten ein lähmendes, aus tiefstem Inneren aufsteigendes (doch im Maul verhaltenes und darum besonders grausiges) Heulen.
„Nicht weiter!!“ kreischte der Anführer, der eine schwarze Sporttasche hinter sich her schleifte. Aus der Tasche ragte mit dem Lauf nach oben eine Maschinenpistole Marke AKM.
„Nicht weiter! Da vorn sind Hunde. Vor denen ist man nirgends mehr sicher … Teufel noch mal! Jetzt geht’s dem Fetti auch ohne uns an den Kragen. Das ist sogar besser … Man könnte ja mal gucken, was da los ist. Heh, Jungspund, geh mal nachsehen!“
Das Heulen und Zähneknirschen wurde lauter, schraubte sich in Wellen von unten in den Fichtenwald. Plötzlich aber verschwanden Jaulen und Gebell.
Der kleinste und faulste der vier Verfolger druckste herum, zog den Kopf zwischen die Schultern und trottete schließlich dorthin, wo der Steilhang zu vermuten war. Drei, vier Minuten später kam er zurück, grinste schief und sagte, ein Zucken im Gesicht:
„Aus dem Fettwanst, aus dem da ham die Hackfleisch gemacht, die Viechter! An die sweihundert Stück sind das!! Nüscht wie weg hier, Kumpels!“
„Echt Hackfleisch?“
„Und wie!“
Trödel, Zitrone, der Rigaer, Fetti und der Jungspund – als Neuling noch ohne richtigen Spitznamen – waren noch vor kurzem eine Kumpanei gewesen, bevor es sie unverhofft in Existierende und Nichtexistierende, Lebende und Nichtlebende auseinanderdividiert und unverhofft mit dreister Hand nach verschiedenen Seiten, in verschiedene Welten, auf verschiedene Erden und Monde geschleudert hatte …

Der Feuerhund

Rot, wirklich feuerrot war in der Meute nur ein einziger Hund. Einst hatten ihn die Menschen genau so gerufen: „Ogon“ – Feuer. Wie ein reißzahniges Feuer, ein strafendes Feuer, ein vernichtendes Feuer, so kam er auch vielen Artgenossen vor.
Den massigen, doch nicht aufgedunsenen und noch nicht nach Alter stinkenden Mann, der zudem keinerlei menschliche Ansteckung in sich trug, die Hunden gefährlich werden konnte, ihn hatte Ogon – wie es sich für einen Rudelführer gehört – als erster gesehen. Wenige Augenblicke später sah ihn die ganze Meute: zunächst die Vorhut – die zehn Späher, zu deren Pflichten das Aufspüren der Beute zählte. Dann die Häscher, von denen es weitaus mehr gab, vielleicht dreißig, vielleicht vierzig an der Zahl, sie mussten angreifen und umzingeln. Dann sahen den Mann die Teilerhunde, die die Beute zerlegten und bewachten – vor ihren Artgenossen, die der Geruch des Blutes beinahe tollwütig machte. Als letzte sahen ihn einige Hündinnen und die drei, vier in den letzten Tagen mannbar gewordenen und bereits wehrhaften Junghunde. Schwache, bei der Jagd glücklose Tiere duldete die Meute nicht. An den Nachwuchs verschwendete sie keine Gedanken. Denn nicht für ein sesshaftes Leben und die Fortsetzung der Art hatte sie sich zusammengetan, sondern für das ungebundene Vagabundieren, die freie Hatz.
Zweihundert Hunde waren es natürlich nicht. Es waren siebzig, achtzig. Aber selbst für ein Rudel von achtzig Mäulern war der den Steilhang herabschlitternde Mann nur ein Geruch, nur ein aufreizendes Spielzeug. Als erster verstand das Ogon. Und knurrte warnend. Dieses Knurren vernahmen alle: der Jährling ebenso wie die Zugeher und die Hündinnen. Das Rudel, auf dem Sprung, über den Mann herzufallen, stand wie gelähmt. Manch einer ließ das Gebiss knacken und haschte leere Luft, manch einer stieß ein kurzes, gekränktes Heulen aus.
Da knurrte Ogon noch einmal. Nun wichen alle Hunde, die sich unmerklich an ihn heran gedrängt hatten, zurück und ließen den Anführer vortreten. Das taten sie immer, wenn es galt, nicht einfach anzugreifen, sich festzubeißen und zu zerfetzen, sondern wenn ein Entschluß gefasst oder eine Entscheidung aufgehoben werden musste.
Ogon trat vor und erstarrte für einen Augenblick: Irgend etwas Bekanntes witterte er in dem gedrungenen, trübäugigen, hängebackigen, plattnasigen Mann. Eine Art vergessenes Gefühl durchzuckte Ogons Körper. Dem Feuerhund schien: Man durfte den Mann, der den Steilhang herabgerutscht war, nicht in Stücke reißen, es wäre ungut. Er ließe sich brauchen. Wofür? Wozu? Das konnte Ogon nicht gleich begreifen. Doch mit jedem neuen Klümpchen Zeit, die für den Hund wie eine Mücke aussah und mit geschmeidigen Flügelschlägen an seiner schwarzen, feinfühligen Nase vorüber sirrte, wurde ihm klarer: Er brauchte den Mann in der lang wallenden blauen Hülle, mit der platten, die Kopfhaut wärmenden Bedeckung. Und dieses Begreifen (normal für einen Menschen, nicht aber für einen Hund) ließ Ogon ein drittes Mal knurren: so laut er konnte.
Dieses Knurren hatte die Meute noch nie zu ertragen vermocht: die zerschundenen, schiefen Köpfe zwischen die Schultern gezogen, schlaff mit den zerfetzten Schwänzen wedelnd, trotteten die Hunde trübsinnig auseinander, jeder seiner Wege, zu dem als spitzwinkliges Dreieck herüber scheinenden See oder dem verlassenen Brunnen.
Der Feuerhund und der Mann standen einander gegenüber, Stirn zu Stirn, allein.

Mit trägem Lachen

„Wir könnten uns ja wenigstens mal die Knochen von Fetti begucken, oder was?“ fragte mit trägem Lachen derjenige, den sie vorhin zum Steilhang geschickt hatten – der Jungspund.
„Biste bekloppt? So ein Jaulen hab ich mal dort gehört, wo ich im Straflager war. Da findste nich mal mehr Knöchelchen! Wir erzählen in Moskau wie’s war, Beweise sind da nich nötig. Wir sind schließlich keine Staatsanwaltschaft. Kapiert, du Spund?“
„Is ja schon klar, aber selber täte ich mir den Kaputten schon mal gerne angucken!“
„Nix is“, beendete der Anführer mit der Maschinenpistole in der Sporttasche unzufrieden das Geschwätz des Neulings. „Wir müssen den Jeep noch klarmachen.“

Der sitzende Mann

Der auf der Erde sitzende Mann regte sich. Er wollte die Meute anschauen und konnte es nicht.
„Die hier unten, die reißen mich wenigstens gleich in Stücke. Die da oben foltern mich vorher erst noch einen Monat. Schluss ist sowieso mit mir. Schluss – und aus …“
Im Vorgefühl des unvermeidlichen und kläglichen Endes zwang sich der Mann Iwanjajew die Lider zu heben, um einen letzten Blick auf die Meute zu werfen. Fetti Iwanjajew war zupackend, gewieft und dreist, wenngleich auch ein wenig geschwätzig und nachlässig in kleinen Dingen, was ihn aber nicht hinderte, alles Wichtige beständig im Blick zu haben.
Als er die Augen aufschlug, sah Iwanjajew: Die Meute war weg. Und er sah: Ihn betrachtete aufmerksam ein einziger, dafür riesengroßer Hund. Der Köter mit dem schmutzigen feuerroten Fell löste Grauen aus. Seine Schnauze glich der eines kaukasischen Schäferhunds, obwohl die gerundeten Ohren zu einer anderen Rasse zu gehören schienen. Den Ohren nach konnte es ein russischer Wachhund sein. Außerdem zeigte dieaufgestülpte, ein wenig seitlings gebogene Nase deutlich: Er war nicht reinrassig.
Vor Freude darüber, dass der Hund allein war, hätte Iwanjajew jauchzen können. Mit einem Köter, auch einem so riesenhaften wie diesem Schmutzigroten hier, würde er fertig werden! Kaum merklich regte Iwanjajew die Hand, schob sie verstohlen zur Hosentasche, um die Gaspistole hervorzuziehen.
Ogon spannte die Muskeln und stieß ein kurzes – ganz besonderes, krächzend-herausforderndes – Heulen aus. Sofort war weiches Pfotengetrappel und heiseres Hecheln zu hören: Hinter Ogon wuchsen die zehn Späherhunde empor. Iwanjajews Hand fiel kraftlos auf die Knie. Ogon machte einen Katzbuckel, gab etwas wie ein schwaches Husten von sich, und die Späher machten kehrt, trotteten zurück in die Meute. Wieder zuckte Iwanjajews Hand – Ogon knurrte auf der Stelle: Die Spürhunde hielten inne, warteten reglos, bereit, sich auf diesen Mann zu stürzen, der sie lockte mit seinem schmutzigen, ranzigen Fett und bis zur Weißglut reizte, weil sich der Tod, der ihm entgegeneilte, so widerspenstig gebärdete.
„Das gibt’s doch gar nicht! Eine Dressur! Ein Köter dressiert mich!“ wieherte der vom Hundeleben seiner letzten Diebesjahre erschöpfte Iwanjajew plötzlich hysterisch los. Und nahm für einige Zeit nicht mehr wahr, was um ihn herum vorging.
Ein drohendes Knurren brachte den Mann wieder zur Besinnung.
Ogon stand über ihm, mit gefletschten Zähnen. Iwanjajew richtete sich auf, der Hund jaulte zufrieden, erfreut über die Verständigkeit des Mannes. Iwanjajew wollte nach hinten, zu dem sandigen Steilhang hin – wieder das drohende Knurren. Iwanjajew kehrte an den alten Platz zurück – Ogons schmutzigviolette Zunge  mit den Schaumbläschen an den Rändern hechelte zustimmend. Iwanjajew machte einen Schritt in Richtung auf den dreieckigen See – der Hund lief hinter seinem Rücken und stieß ihm freudig bejahend den struppigen Kopf in die Seite. Iwanjajew hatte verstanden: Er sollte zu dem Gewässer gehen, in die Meute.

Hundezeit

Die Hundezeit fließt nicht so wie die der Menschen. Das begriff Iwanjajew schnell, bereits wenige Stunden, nachdem er den Steilhand hinabgeschlittert war. Doch zuerst saß er auf der kleinen Insel im See, wohin ihn Ogon eskortiert hatte. Er hockte da, bewacht von zwei finsteren, ganz und gar verwilderten Terriern, für die es keinen Weg zurück gab aus dieser Verwilderung. Sie waren deutlich dümmer als Ogon, aber sie bewachten den Mann Iwanjajew gut. Er konnte nicht einmal auf die Armbanduhr sehen, die fehlende Bewegungsfreiheit nahm ihm den Atem und die zum Zerreißen gespannten Nerven ließen ihn nicht einschlafen. Doch am meisten machte Iwanjajew zu schaffen, dass er, der schon als Kind Hunde gemocht, sie als seine Spielgefährten und Diener betrachtet, eine Unmenge Zeit mit ihnen zugebracht hatte, jetzt zu ihrer Beute geworden war, zu ihrem Erzfeind, dessen Geist und Fleisch sie mit den Zähnen zerfetzen, zerreißen und über Fluren und öde Winkel verstreuen mussten, bis nicht das Geringste mehr davon übrig blieb.
Nach einiger Zeit – eine Stunde, zwei, drei? – kam Ogon zurück und mit ihm die zehn anderen Hunde. Böse und unübersehbar hungrig: Man spürte, sie hatten sich nirgends an Fleisch sattgefressen, kein Blutwasser eines Hammels oder wenigstens einer Katze geleckt. Als sie zu Atem gekommen und danach eine Zeitlang drei Hündinnen am Seeufer nachgejagt waren, wurden die Späher für ein paar Minuten still. Vielleicht bedeuteten diese Minuten für sie so viel wie einen halben Tag, vielleicht eine ganze Nacht. Das konnte Iwanjajew nicht genau feststellen, aber es schien ihm so.
Als Ogon die finsterbraunen, klettenbehangenen Terrier verjagt hatte, schob er seine Schnauze an Iwanjajews gesenkten Kopf heran, schlug dicht über dem gebeugten Hals des Mannes die Zähne zusammen. Das Knirschen war so nahe an Iwanjajews Fleisch und Haut, dass er vor Angst aufsprang und wie versteinert vor dem Hund stehenblieb. Noch einmal, doch schon schwächer, knirschte Ogon mit den Zähnen und wandte den Kopf ein wenig zur Seite: vom See zu der Chaussee hinüber. Iwanjajew starrte Ogon in die Pupillen und Kälte durchfuhr ihn: In den Augen des Hundes sah er statt irrsinniger Raserei, statt trüber Wut und widerwärtigem animalischen Stumpfsinn ganz deutlich die Funken eines gefährlichen, klugen Hohns.

Der nichtendenwollende Abend

Er wollte und wollte nicht enden, der Abend jenes warmstillen Tages. Der gelbe Tagmond war längst verblasst. Der volle nächtliche Mond noch nicht am Himmel aufgegangen.
Übersät mit vielen kleinen Bissspuren, breiten Kratzern und hier und da auch einer tiefen Fleischwunde, stand Iwanjajew am Rande der Chaussee. Es war ein Arbeitstag, Mittwoch. In Richtung Moskau fuhren nur wenige, zögerliche Autos. Nach zehn oder zwölf Bissen hatte Iwanjajew verstanden: Er sollte den Arm heben und ein Auto anhalten.
Sein Arm war auch schon ein paar Mal hochgeruckt, doch Ogon hatte warnend geknurrt, und flink wie eine scheue Eidechse huschte Iwanjajews Hand zurück in die Manteltasche.
Schließlich erschien ein dunkelblauer, zerbeulter Ford-Minibus, der sich mühsam vorwärts quälte. Iwanjajews Arm fuhr von allein in die Höhe. Diesmal folgte kein Knurren, und der schmutzbefleckte Ärmel des Hundemannes schlenkerte fröhlich im Scheinwerferlicht.
Iwanjajew dachte: Er würde den Arm heben, der Minibus hielte und – mochten sich die Köter ruhig auf ihn stürzen – dann spränge er auf das Trittbrett, und sei es in voller Fahrt.
Der Mann Iwanjajew hatte sich geirrt. Sobald der Minibus bremste, war Ogon hinter ihm, packte seinen Knöchel mit den Zähnen und hielt das Bein fest in seinem riesigen speicheltriefenden Maul. Tödlicher Schmerz durchfuhr Iwanjajew. Er begriff: Ogon würde ihm einfach die Sehne durchbeißen, den Knochen zermalmen. Das ließ seine Hand noch krampfhafter in der Luft wedeln.
„Was hampelst du da rum?“ rief der Fahrer herüber und reckte seinen Bart aus dem Fenster.
„Hierher, hierher! Der Hund ist weg! Ein Ra-a-assehund!“ schrie Iwanjajew das Erstbeste, was ihm einfiel.
„Was denn für ein Hund, verdammt noch mal? …“
Der Minibus schrammte mit der Nase über den Asphalt, machte einen Hopser und blieb stehen. Ein junger Mann und ein Mädchen kletterten heraus. Das Mädchen trug kurze Jeans, die nicht zu ihrem Alter passten. Beide zündeten sich eine Zigarette an, nahmen jeder einen Zug, als Iwanjajews Knochen knackte und nach dem Knacken ein wildes Heulen in seine Ohren sprang. Iwanjajews Lider bebten vor Angst, fielen ihm über die Augen, und dann schlug mit einem weichen Klappen, wie bei einer Teebüchse, Iwanjajews Bewusstsein zu.

Der nächste Tag

Der nächste Tag begann wieder mit einem Marsch zur Chaussee. Allerdings nicht zu der gestrigen Brücke, sondern zu einer anderen.
Satt und dreist geworden, liefen die Häscherhunde stumpfsinnig hinter Iwanjajew her und winselten, bis Ogon ihre Bewegung dorthin lenkte, wo er sie brauchte.
Diesmal postierte er Iwanjajew anders: Mit Krallen und Zähnen zwang er den Mann, der apathisch und hoffnungslos gehorchte, sich an einem Abzweig der Chaussee flach hinzulegen. Ogon selbst streckte sich daneben aus und reckte die Pfoten zur Seite.
Vier vereinzelte Autos umkurvten furchtsam Mensch und Hund, die auf der Fahrbahn lagen. Das fünfte hielt. Ein alter Mann mit einem Wachtmeisterschnauzbart, zwischen Unterlippe und Kinngrube zu rötlichen Spitzen gezwirbelt, beugte sich über den Liegenden. Irrsinnig starrte Iwanjajew dem Alten in die gelblich gesprenkelten Augäpfel und winselte gedehnt wie ein Hund:
„Hau ab! Hau …!“
Ohne auf die Pfoten zu springen, aus dem Liegen, fiel Ogon über den alten Mann her. Als sich ein Halbwüchsiger aus dem Auto reckte, warfen sich aus dem Gebüsch am Straßenrand gleich mehrere Hunde auf ihn. Die zerfleischten Körper wurden bereits in den Wald geschleift, als Iwanjajew, das durchbissene, blutende rechte Bein nachziehend, zu dem leeren Auto stürzte.

Iwanjajew wollte bleiben

   Iwanjajew wollte noch einige Minuten am Leben bleiben, wenigstens leben, um das Auto zu starten, sich in rasender Geschwindigkeit loszureißen von diesem unheilvollen Ort, von der Macht der Hunde, die in den letzten Jahren so aberwitzig klug geworden waren, um dann sehnsüchtig gegen einen Baum zu prallen, sich in einen surrenden Betonmasten zu verkeilen.
Aller Glanz, alle Schönheiten der Welt flossen für Iwanjajew in diesem Vorwärtsschnellen, diesem Losrasen des Autos zusammen, das seinem Untergang entgegen flog.
Fast hatte Iwanjajew den Griff der offenen Tür gepackt, als er einen unerträglich reißenden Schmerz in der linken Hinterbacke spürte. Er stieß einen kurzen Schrei aus, Speichel rann ihm aus dem Mund, der Türgriff des Autos entglitt seiner Hand und er krachte dumpf mit dem ganzen Körper auf den Asphalt.

Feuer durch Feuer

Ogon, der Feuerhund, fühlte sich tatsächlich wie Feuer. Er kannte seinen Namen, wusste, mit welchem Schlüssel die Menschen sein Innerstes aufgeschlossen hatten in jenem längst vergangenen Leben aus Häuslichkeit und Wachen. Irgendwie begriff er auch, was genau der Name Ogon bedeutete. Denn wenn er einen vom Blitz entzündeten Baum sah oder eine brennende Dorfscheune, schreckte er nicht zurück vor den Flammen, im Gegenteil: Er lief heran, so nahe wie möglich, ganz dicht. Manchmal versengte das Feuer die Härchen auf seiner Nase, plusterte das rauhe, lange Fell über den Jochbeinen auf und verkohlte es. Der Brandgeruch ließ Ogon zurückweichen, doch nicht sehr weit und widerwillig.
Wenn es keine Flammen gab, wälzte sich Ogon im Gras. Schnelles Laufen und dieses Wälzen halfen ihm, sich hineinzudenken in das, was geschah, halfen ihm, seinem Kopf so etwas wie Gedanken abzuringen. Und wenn er nachdachte (genauer gesagt: zu denken versuchte), dann fast immer über die Menschen. Jener Hass auf die Zweibeiner, den die meisten ausgesetzten oder verjagten Hunde empfinden, fehlte Ogon. Er betrachtete die Menschen teilnahmsvoll, mit Interesse. Und registrierte viel Bemerkenswertes.
So fand er heraus: Menschen wie Hunde unterteilen sich in sehr verschiedene Rassen. Wobei er schwarze, gelbe und weiße sah, die derselben Rasse angehörten. Und dann wieder weiße, die zu völlig anderen Rassen zählten, ohne die leiseste Ahnung davon zu haben. Ogon wusste auch: Manche Menschen besitzen in ihrem Inneren ein durchsichtiges, lebendiges Wölkchen, das selbst wie ein Mensch aussieht. Allerdings wie einer ohne Blut, Knochen und Fell. Dieses Wölkchen, nicht Dunst, aber auch nicht Körper, saß zwischen dem menschlichen Herzen und dem Hals, näher zum Hals hin. Es lenkte die Menschen, trieb sie von Hütte zu Hütte, von Biss zu Biss, führte sie von Mahlzeit zu Mahlzeit. In sich selbst spürte Ogon dieses Wölkchen nicht. Aber auch manche Menschen besaßen keines. Und waren dann furchtbarer als tollwütige Füchse! Von solchen Menschen – ohne das springlebendige, wallende Wölkchen in sich – lernte Ogon Schläue und Gemeinheit. Ein normaler Hofhund kann nicht betrügen und niederträchtig sein. Gemein handeln können auch Wölfe und Füchse nicht. Eine echte Niedertracht auszuhecken vermag nur ein gut abgerichteter Wohnungshund in der Stadt, wenn er freilich nicht sogar dazu noch zu faul ist und sein bisschen Verstand in den Küchen der Menschen verfressen hat. Kein einziger Hund – außer einem tollwütigen – konnte seinem Herrn die Hand lecken und ihn gleich darauf beißen. Ogon brachte es fertig! Er hatte es von seinem Herrn gelernt, der in der stillen Pestschanaja-Straße in Moskau wohnte. Ogons Herr – anfangs war da noch dieses zuckende Wölkchen unter seinem Hals gewesen, doch dann ging es verloren – spielte mit ihm ein Spiel: Er rief ihn heran, streichelte ihn, küsste ihn auf die Nase, um wenig später (gerade hatte sich Ogon entspannt und mit geschlossenen Augen auf den Teppich gelegt) plötzlich eine biegsame Stahlrute auf seine Schnauze herabsausen zu lassen. Von diesen Schlägen war etwas in Ogons Kopf durcheinandergeraten. Und wenn er jetzt an die Schläge dachte, erbebte sein ganzer Hundekörper und er grub die Zähne noch tiefer in Iwanjajews Bein …

Der neue Morgen

Der neue Morgen war besonders unerträglich. Die Bisswunden und tiefen Kratzer machten sich bemerkbar. Der Mensch Iwanjajew begann zu fiebern. Den Hund Iwanjajew, den Hundsfot Iwanjajew dagegen, der sechs Menschen auf dem Gewissen hatte, trieb lähmender Starrkrampf in eine enge, kalte steinerne Höhle. Menschliche Tollwut, Menschentollwut (und nicht die der Hunde) war es, die ihm das Blut in die Augen schwemmte!
Am Morgen des dritten Tages kam Iwanjajew plötzlich ein Gedanke: Er konnte sich, wenigstens für eine Weile, vor der Menschenjagd retten! Den Umstand nutzend, dass Ogon nicht da war, rutschte Iwanjajew – bemüht, die wachsamen Terrier keines Blickes zu würdigen – auf dem Hosenboden zu einem Baum hinüber, hechtete in vier Sätzen den Stamm hinauf und verschwand im Astgewirr des Ahorns, der sein Laub noch nicht abgeworfen hatte.
Iwanjajew suchte sich einen Platz in den Zweigen, und zum ersten Mal, seit ihn Ogon in die Meute zwang, schlief er ein. Er erwachte von unerträglichem Hundegestank, der wie fauliges Wasser direkt in seine Nasenlöcher floss: Mit den Vorderpfoten Blätter und kleine Zweige niederhaltend, die Zunge herausgestreckt vor dreister Neugierde, hechelte ihm der Feuerhund freudig ins Gesicht.
Iwanjajew traute seinen Augen nicht: Nie im Leben hatte er erlebt, dass Hunde auf Bäume klettern. Doch alles klärte sich, als er nach unten sah. Einer über dem anderen, eine grausigen Pyramide aus drei Rängen bildend, standen acht oder zehn Hunde. So konnte der schmutzige Zottelköter auf den Baum gelangen.
Ogon vertrieb Iwanjajew schnell aus dem gilbenden Ahornlaub. Vielleicht als Vergeltung dafür, dass Iwanjajew ohne Erlaubnis auf den Baum geklettert war, vielleicht aber auch aus einem anderen Grund – jedenfalls hetzte Ogon den Mann weiter vor sich her, hinter den Wald, in die Felder.

Wie ein Hufeisen

In der Ferne kamen Gebäude in Sicht, angeordnet wie ein breitgezogenes Hufeisen. Das Schnattern von Wassergeflügel klang herüber, es roch nach dünnem Vogelkot, auch das Muhen von Kühen war zu hören. „Eine Bauernwirtschaft mit Vieh?“ ging es Iwanjajew durch den Kopf, als ihn Ogon wieder auf den Boden gezwungen hatte. “Eine Bauernwirtschaft, verdammt und zugenäht …“
Lange tat Iwanjajew, als verstünde er nicht, was der blutstinkende Köter von ihm wollte: Dass er zu den Leuten hinüber ging, dass sie für Iwanjajew das hohe Eisentor aufschlossen und wenigstens für kurze Zeit offen ließen …
„Ich gehe nicht!“ heulte der Mensch Iwanjajew auf. „Friss mich doch, du Aas, friss mich, du Hundskopf! Hier bin ich, beiss zu, beiss nur!“
Iwanjajew drehte sich auf den Rücken, riß den Kragen seines vor festgebackenem Schmutz und Hundetran starrenden Hemdes auseinander. Seine Augen blickten in starrer Verzückung, wie ein Hund ließ er die Zunge aus den Lefzen hängen. Sie war in den drei Tagen hölzern und unbeweglich geworden.
Mit Iwanjajews Zunge, mit seiner Sprache hatte sich überhaupt Seltsames zugetragen: Nicht, dass er keine russischen Worte mehr sprechen konnte. Nein, im russisch-hündischen Jaulen des Mannes tauchten einfach Einsprengsel einer ganz anderen Sprache auf. Manchmal erschien sie Iwanjajew neu, dann wieder glaubte er Anklänge von etwas Uraltem zu hören. Iwanjajew, der den Verbrecherjargon stets gemieden hatte und – adliger Herkunft und ausgebildeter Ingenieur, der er war – die „gemeinen“ Gauner verachtete, begann hier, mit den Hunden auf einmal im Ganovenargo zu reden. Und die Hunde verstanden diese Sprache, verstanden dieses verruchte, asoziale Idiom – „Fenja“ genannt – aus irgendeinem Grunde besser als Russisch. Vielleicht (so schien es Iwanjajew manchmal) war es aber auch gar nicht die russische Verbrecherfenja, sondern eine Sprache, die allen Räubermenschen und allen Räuberhunden von je her gemein ist: die Sprache der Verräter, die Sprache der Verderber der eigenen Rasse.
„Du! Freundchen! Bist hier der Macker! Der Obermacker oder was?! Schlag mich ruhig, du Vieh! Mach mich alle! Na los doch, du Sauhund!“ kreischte der auf dem Rücken liegende Iwanjajew atemlos.
Ogon sprang auf ihn und schob die Schnauze dicht vor seinen Mund. In Erwartung eines furchtbaren Todes schloss der Hund Iwanjajew die Lider. Doch plötzlich spürte er: Ogon leckte ihm weich und kaum merklich die Wange! Dann noch einmal und noch einmal …
„Du … Freundchen! Ich …“, Iwanjajew verhedderte sich in den Worten. „… Du! Du … machst die da drüben … die Leute nich alle nich? … Machst nich?…“
Ogon schwenkte die Schnauze zuerst nach links, dann nach rechts.
„Nich nich? Gar nich? Bloß ie Schweine … ie Schweine da? …“
Ogon nickte nachdenklich, bellte wie zur Bestätigung leise auf.
„Dann gut … Dann soll’s mir nix machen. Dann schieb ich los … Schieb ich eben mit los …“
Zehn Minuten später hatte sich der Hund Iwanjajew geschüttelt, das Haar glattgestrichen und stieß nun mit Schultern, Ellenbogen und Kopf gegen das Eisentor. Schweigend öffnete ihm ein Kasache – vielleicht kein Kasache, sondern ein Baschkire – und ließ ihn ein. Der Baschkire wischte sich die maschinenölverschmierten Finger an einem Lappen ab und ließ ein Lächeln sehen. Doch er vergaß nicht, das Tor hinter Iwanjajew zuzuschlagen.
„Verlaufen oder so was?“ singsangte der Baschkire weich.
„Hmm. Hunde … ich habe … Hunde dabei. Denen knurrt der Wanst. Hast du was?“
„Gib dem Gast zu essen! Und dann den Hunden!“ rief der Baschkire laut nach irgendwo oben, hinauf zum ersten Stock des steinernen Hauses, der über eine steile Außentreppe zu erreichen war. „Wo sind denn Ihre Hunde?“ fragte eine stattliche Frau mit festem Körper und heller Haut, keine Baschkirin, sondern von slawischem Äußeren. Gleich darauf kam sie die Treppe herunter.
Der Hund Iwanjajew konnte nur mit dem Kopf in Richtung Tor rucken.

Feuer brach herein

Ogon, der Feuerhund, brach als erster durch das Tor herein. Mit dem Kopf stieß er die stattliche Bäuerin um, dann den Baschkiren, die beide bereits zum Haus gegangen waren und sich nun nach dem Hecheln und Heulen umdrehten.
Zunächst führte Ogon die Hunde auch tatsächlich zu den Schweinen. Die waren jedoch gut verbarrikadiert: Unüberwindliche Eisengitter trennten sie von den Menschen wie von den ungebetenen Hunden. Da stürzten sich diese auf die Bewohner des Bauernhofes, die es nicht geschafft hatten, die Haustür zuzuschlagen.
Die Schweine hinter den Gittern grunzten eilfertig Ermunterung.

Die Macht der Hunde

Keine Macht der Welt bereitet Freude! Und keine Macht der Welt ist gerecht, außer der Macht des SCHÖPFERS dieser Welt. Verrucht ist die Macht des Menschen über den Menschen, verrucht ist die Macht des Höheren über den Niederen, doch noch verruchter ist die Macht des Niederen über den Höheren. Am verruchtesten aber ist die Macht des Tieres über den Menschen: Ob nun die Macht des Schoßhündchens, das seinen in Einsamkeit und heimlichem Hass auf die Artgenossen dahindämmernden Besitzern Liebe und Fraß abpreßt, oder die Macht des riesigen Wachhunds in einer Strafkolonie, oder die Macht des hundsföttischen Wucherers, der mit dem Fleisch seinen Zins aus den bettelarmen, blutleeren Menschenkörpern reißt.
Die Macht der Hunde raubte Iwanjajew bisweilen den Verstand, manchmal jedoch hüllte sie ihn in kleinliche, winselnde hündische Freude.
Auf dem Bauernhof war Iwanjajew fürchterlich zugerichtet worden. Ogon musste ihn losbeißen von den Häscherhunden. Er war es auch, der Iwanjajew – zerschunden, nur noch aus Fleischfetzen bestehend, im eigenen Blute schwimmend und dennoch am Leben – zu einem sicheren Ort schleifte, zum Wald. Zwei Tage leckte der Hund die Wunden des Menschen. Drei Tage netzte er mit seinem ätzenden antiseptischen Speichel klaffende Risse und zertrennte Gewebe. Vier Tage kühlte er mit seiner schwarzen kalten Nase Iwanjajews fieberglühende Lippen und Schläfen. Und die furchterregenden Wunden begannen auf wundersame Weise zu verheilen und zu vernarben: auf der Wange, an den Handgelenken, und – die tiefste – an der Schulter.
Mit stillem Schuldbewußtsein sah Ogon Iwanjajew in die Augen, zugleich aber auch streng, nach Art eines Milizchefs, eines Kontrolleurs oder Vorarbeiters. Wie er dies machte, wußte Iwanjajew nicht, doch das absolut menschliche, banditenhafte Gebaren des Hundes jagte dem Mann tödlichen Schrecken ein.
Am siebenten Tag beschloss der Mann Iwanjajew, der in all den Tagen nur drei angefrorene Äpfel gegessen hatte, bis zur Unkenntlichkeit abgemagert und bleich geworden war, das zu tun, was er vielleicht schön längst hätte tun sollen: zurückzukehren zu den „Brüdern“.
Seltsam, doch sobald sein Entschluß feststand, änderte sich auch seine innere (und ebenso die äußere) Art zu sprechen: Der Ganovenjargon verschwand, dafür tauchten Worte auf, die er in den sechs Tagen vergessen hatte, seltene Worte. Unverhoffte Gedanken tauchten auf im Kopf des Menschen Iwanjajew, der unfreiwillig, aus einem Leben als Bauingenieur, bei den „Brüdern“ gelandet war. So dachte er, dass einerseits die Macht der Hunde jetzt stärker und sogar besser sei als die der Menschen: Alles einfach, alles berechnet, überall Ordnung, mochte sie auch hündisch sein. Andererseits: Woher war diese Macht gekommen? Vom Menschen, von ihm war sie gekommen. Und aus unerfindlichen Gründen hatte kein einziger Tierschutzbund bisher die Gattung Mensch dafür verklagt, den sittlichen Verfall der Hunde verursacht zu haben. Er, er, dieser Mensch, hatte in grauer Vorzeit die Hunde zu sich gelockt – und jetzt warf er sie zu Hunderten, Tausenden auf die Straße. Jedenfalls in der Gegend um Moskau, in Moskau, in Russland überhaupt … 
Unterdessen war Ogon, der tagelang Iwanjajews Wunden geleckt hatte und zufrieden sah, dass der Mann nicht gestorben war, also für neue Überfälle und Hetzjagden taugte, irgendwohin verschwunden. Iwanjajews Entschluß stand fest. Die dümmlichen Terrier verstanden natürlich nichts von Funktelefonen. Schon dreimal hatte der Mann die tauben Finger zur Hosentasche geschoben. Einer der Terrier kläffte träge auf, jedoch suchte sein Blick gleich wieder die rotweiße Hündin, die im Gebüsch wuselte.
Iwanjajew drückte mühsam einen Knopf nach dem anderen und registrierte mit Verwunderung, wie alte, in furchtbare Ferne entrückte Gedanken in ihm auftauchten, während er Zahl um Zahl die Nummer wählte. Es meldete sich eine bekannte Stimme. Iwanjajew verschluckte sich an Speichel, musste husten.
„Zitrone? Ich bin‘s, Fetti …“
„Mich trifft der Schlag! Das is ja was! Haben dich denn nich die Köter weggeputzt?“
„Zitrone, sag den Kumpels, ich rücke das Geld raus. Sie sollen herkommen. Ich zeig ihnen selber, wo‘s liegt.“
„Das is dein sicheres Ende, Kumpel.“
„Weiß ich. Aber ich will sowieso nicht mehr.“
„Wo biste denn, Kumpel?“
„Hier. Ganz in der Nähe. Neben Chotkowo ist ein Dorf. Kraskowo. Schon mal gehört? Ein Stück nördlich kommt ein Wald. Da halten sie mich fest. Lassen mich nicht mal krepieren!“
„Wer denn?“
„Die Hunde. Stellen mich als Köder hin! Als Lockvogel! Richtig Menschenjagd gelernt haben die. Kommt mit dem Hubi! Um die abzuknallen, braucht man eine ganze Kompanie. Und ihr Anführer, der hat den Grips von einem Menschen!“
„Richte ich aus, Kumpel, klar doch. Kratz bloß nich ab bis dahin. Abkratzen helfen wir dir schon.“

Auf den Lärm lauschend

Die Meute lauschte auf den Motorenlärm, der durch den Wald hindurch direkt auf sie zukam, und wurde unruhig. Ogon erhob sich, blieb einen Augenblick stehen, raste in die Tiefe des Waldes. Dann kam er zurück, trommelte die Späherhunde zusammen und schickte sie den Motoren entgegen. Er selbst trieb Iwanjajew mit Bissen in Knöchel und Gesäß vor sich her, irgendwohin nach Nordosten.
Seine Bisse wurden immer heftiger, immer schneller hetzte er den Menschen, der trotz der Wunden aus unerfindlichen Quellen die Kraft nahm zum Laufen.
Der Hund Iwanjajew lief und schrie:
„Schieß, Zitrone, schieß doch! Knallt sie ab, Kumpels, macht sie alle!“
Bald jedoch begann der Motorenlärm zur Seite hin abzuebben. Der Hund Iwanjajew lief inmitten der Meute und horchte auf den sich entfernenden Hall des Waldraumes. Er horchte, und ihm schien, er sähe sich von der Seite, sich selbst und die Meute, wogend wie die Glut eines Buschfeuers in der Niederung.
Die Feuerwolke – beißend, böse und tollwütig – stob schwanzpeitschend und Fellfetzen verlierend an Kraskowo vorüber. Vorbei an noch einem Dorf zur Linken, wo das weißplatinfarbene Kreuz einer Kirche aufschien. Der unbegreifliche, doch gut fühlbare, stechend in Knöcheln und Rückgrat pochende Sinn der Hatz, der Sinn des Hundelebens trieb und trieb den Hund Iwanjajew vorwärts: die Zähne gefletscht, schneller, lauter, weiter!
Plötzlich hielt der Mensch Iwanjajew unverhofft inne, die Hand gegen das aus der Brust springende Herz gepreßt. Die Motoren waren schon fast nicht mehr zu hören. Iwanjajew setzte sich auf die Erde, unzufrieden winselnd blieben auch die Hunde stehen und scharrten sich um ihn. Ogon trat vor und sah Iwanjajew mit der ganzen Aufmerksamkeit seines Hundewesens in die Pupillen. Unerwartet für sich selbst fuhr Iwanjajew mit der Zunge über die zottige Wange des Anführers. Dann noch einmal, noch und noch … In diesem Augenblick des Leckens und Küssens liebte Iwanjajew den Hund. Die vergessene menschliche Liebe in sich aufsaugend, ließ Ogon die faltigen Vorhänge der Lider über die Augen fallen. Im gleichen Moment war wieder Motorenlärm in der Ferne zu hören. Iwanjajew schien: Amphibienfahrzeuge der Armee näherten sich! Nun verschlug bereits Freude dem Mann den Atem, er sog einen Schluck Luft ein, leckte Ogon auch noch die Nase.
Bald jedoch bogen die unsichtbaren Amphibienfahrzeuge seitlich ab, das Dröhnen klang schwächer, feiner, erstarb beinahe. Und da endete die Liebe des Mannes zu dem Hund. Wich Verzweiflung. Und aus dieser Verzweiflung über das nichtendenwollende unmenschliche Leben schlug Iwanjajew die Zähne tief und heftig in das schwarze Fell. Er durchbiß die Nase des unaufmerksam gewordenen Hundes und schluckte Ogons Blut, bis der Anführer mit einem kläglichen Heulen auf die Seite fiel.
Erdrückt von der Niederlage, stand die Meute wie versteinert. Doch Iwanjajew hatte bereits keine Kraft mehr, den seitlings davon kriechenden Hund zu töten. Der Motorenlärm war inzwischen völlig verebbt. Dennoch schien Iwanjajew: Die Macht der Hunde, die Macht der tollwütigen flammendroten Hunde über die Menschen musste jeden Augenblick enden
Vor wilder (schon nicht mehr hündischer, sondern menschlicher) Freude heulte Iwanjajew auf, er begriff, wenn er es jetzt nicht tat, fing alles von vorn an (sie würden Ogons Nase mit ihrem Lecken heilen, er würde zu Kräften kommen, die Hunde gegen die Menschen führen, in die Gehöfte!) – und seine Finger stupsten in die Tastatur des Funktelefons.
Während er wählte, standen die Hunde mit zitternden Leibern und wedelnden Schwänzen.
„Hier bin ich, hier! Ihr müsst euch mehr nach Norden halten!“ schrie Iwanjajew in das Plastikgehäuse.
Keine zwei Minuten später schob sich der Motorenlärm in zwei schwer lastenden Rechtecken in den Wald, in Iwanjajews Ohren, in das Gehör der Hunde, die ihn umringten. Der erste Schuß – noch ins Ungefähre, ins Nichts – krachte.
Das grausige, schwermütige Heulen der Meute, die den Untergang witterte, zerfloss bitter und zäh, wie schwarze Galle über das Bauchfell rinnt, strömte in die Niederungen des Chotkowo-Waldes. Und von diesem Heulen löste sich der blaue unschuldige Atem der verirrten Hunde des Moskauer Umlands und flog zum Himmel.
Die Macht der Hunde war erschüttert.