Roman von Olga Trifonowa
Aus dem Russischen von Irina Berman
Im Sommer 1930 ist Nadeschda Allilujewa unter fremdem Namen auf Kur in Karlsbad und in Marienbad. Hier findet sie die Ruhe und Distanz für Reflexionen über ihr Leben: Ereignisse ihrer Kindheit und Jugend, Stationen ihrer Ehe. Mit 29 Jahren ist Stalins Frau Mutter von 2 Kindern und studiert im dritten Jahr an der Industrieakademie.
Zurück in Russland, gerät sie immer mehr zwischen die Räder von Stalins Machtapparat. Überwachung und Verfolgung erzeugen allgemein ein Klima der Angst und auch Russlands Wirtschaft funktioniert nicht: die Menschen hungern. Zwar will Nadeschda nur ein „normales“ Familienleben mit Mann und Kindern führen, aber zu viele Menschen in ihrem Umfeld, Freunde, werden plötzlich verfolgt, verhaftet, verbannt.
Nadeschdas rätselhafter Tod an einem kalten Novembertag des Jahres 1932 gibt bis heute Anlass zu vielen Spekulationen.
424 Seiten, gebunden mit Umschlag
ISBN: 3-9501769-5-0
Euro 25,00
Pressestimmen
Dr. Hannelore Umbreit
Vorwort zur Lesung aus „Die Einzige“ von Olga Trifonowa
auf der Leipziger Buchmesse 2006, Forum International
… Bevor wir Ihnen in Russisch und Deutsch einige ausgewählte Textstellen zu Gehör bringen, gestatten Sie mir zunächst einige Bemerkungen zur Person der Autorin und zu ihrem literarischen Werdegang. Dem soll sich noch eine Erläuterung Olga Trifonowas zu den Entstehungshintergründen des Buches anschließen. Denn immerhin ist es ja nicht selbstverständlich, dass sich Olga Trifonowa, deren eigene Familie während der Stalin-Herrschaft bitter zu leiden hatte und repressiert wurde, literarisch dem Leben eben jener Frau zuwendet, die 15 Jahre lang an Stalins Seite stand. Bedenkt man, dass die sowjetische Periode der russischen Geschichte reich ist an herausragenden Frauenpersönlichkeiten, die auf die eine oder andere Weise in die historischen Prozesse eingriffen – erinnert sei beispielsweise an Alexandra Kollontai oder Iness Armand –, dann dürfen wir gespannt sein zu erfahren, warum die Wahl der Autorin gerade auf Nadeshda Allilujewa fiel.
Olga Trifonowa ist von Hause aus Naturwissenschaftlerin. Sie studierte Radioelektronik in Moskau und war als Biophysikerin tätig. Vielleicht erklärt dieser biografische Hintergrund, warum sich das Erstlingswerk der Autorin, nämlich der Roman „Der Tag des Hundes“, mit der Zerschlagung der sowjetischen Genetik-Forschung Ende der neunzehnhundertvierziger Jahre beschäftigt.
Fruchtbare Impulse für ihre weitere literarische Tätigkeit bezog Olga Trifonowa aus der erfüllten Ehe mit dem 1981 verstorbenen bekannten Schriftsteller und Historiker Juri Trifonow, dessen Name besonders den Bücherfreunden aus den neuen Bundesländern noch in bester Erinnerung sein dürfte. Wenn ich aus meiner eigenen Lebenswahrnehmung berichten darf: Im Rückblick ist meine Studentenzeit für mich überhaupt unvorstellbar ohne Trifonows wunderbare, philosophische Texte wie „Langer Abschied“, „Die Zwischenbilanz“ oder „Der Tausch“.
1974 kehrte Olga Trifonowa der Naturwissenschaft den Rücken. Sie arbeitete zunächst als Drehbuchautorin, schrieb zahlreiche Filmvorlagen und Bücher. Aus ihrer Feder stammen inzwischen mehr als fünf Romane, die bei Lesepublikum und Literaturkritik gleichermaßen große Beachtung fanden. So war das im Jahre 2002 in Moskau erschienene Buch über Nadeshda Allilujewa in Russland für den Preis „Bestseller des Jahres“ nominiert. Weitere bemerkenswerte Titel aus der Feder Olga Trifonowas sind beispielsweise die Erzählung „Versuch einer Verzeihung“ (1992) oder die Romane „Bu“ (2003) und „Die Träume tags zuvor“ (2005)
Doch das Tätigkeitsfeld Olga Trifonowas erschöpft sich nicht im Schreiben. Zum einen mündete ihre reiche Erfahrung als Drehbuchautorin in eigene Regiearbeiten. Und zum anderen ist sie mit Leidenschaft Museumsdirektorin. Und zwar Direktorin eines einzigartigen historischen Gedächtnisortes: Olga Trifonowa leitet seit Ende der neunzehnhundertachtziger Jahre das Museum im „Haus an der Uferstraße“.
In diesem massigen grauen Gebäudekomplex, dessen rückwärtige Fenster direkt auf den Kreml hinausgehen, wohnten während der gesamten Sowjetära zahlreiche Angehörige der höchsten Nomenklatura mit ihren Familien. Unter anderen auch mehrere Verwandte der Protagonistin des Romans „Die Einzige“. Von hier aus traten sie nach dem Tod von Nadeshda Allilujewa im Jahre 1932 den Weg in Verbannung und Gefängnis an.
Bliebe noch zu sagen, dass gerade in diesem Buch „Die Einzige“. Nadeshda Allilujewa. Die Frau Stalins“ die Schriftstellerin Olga Trifonowa die Naturwissenschaftlerin Olga Trifonowa nicht verleugnen kann. Worin offenbaren sich diese naturwissenschaftlichen Züge? Zum einen darin, dass die Autorin mehr als ein Jahr lang umfangreiche Quellenstudien betrieb, Zugang zu Archiven fand, die lange Zeit verschlossen waren, mit noch lebenden Verwandten ihrer Protagonistin sprechen konnte, Personen befragte, die Nadeshda Allilujewa persönlich kannten. So wertete Olga Trifonowa beispielsweise auch die Krankenakte ihrer Protagonistin aus. Und zum anderen lässt die Autorin die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit dem historischen Stoff in eine Sprache fließen, die geprägt ist von schnörkelloser Klarheit, konzentrierter Lakonie und klangvoller Verhaltenheit.
Wovon Sie sich anhand der Leseausschnitte gleich selbst überzeugen können.
Doch zuvor lassen Sie mich Olga Trifonowa fragen, was sie bewogen hat, sich gerade dem Schicksal der Frau an Stalins Seite zuzuwenden. Was diese Nadeshda Sergejewna Allilujewa heute, nach einer so intensiven historischen und literarischen Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal, für die Autorin ist: eine Frau ihrer Zeit, eine Frau, die ihrer Zeit voraus war, oder eine Frau, die hinter den Möglichkeiten ihrer Zeit zurückblieb?
Ich wünsche uns eine fesselnde Lesestunde und eine anregende Diskussion.
Hanns-Martin Wietek – zu „Die Einzige. Nadeschda Allilujewa – Stalins Frau“ von Olga Trifonowa. www.russland.ru, 31.10.2006
Die Vermischung von Fiktion und historischen Fakten – ein Tatsachenroman (was an und für sich ein Widerspruch in sich ist) – kann sehr sinnvoll sein, denn vielleicht trockene aber dennoch wichtige Fakten können so dem Leser spannend dargeboten werden, und der Autor kann sein literarisches Können einbringen. Problematisch wird dieses neue Genre, wenn der Leser historische Fakten und Erfundenes nicht mehr unterscheiden kann; es besteht dann die Gefahr der (ungewollten) Geschichtsfälschung, es werden leicht Mythen und Legenden geboren. Auf Fiktion und Fakten hinzuweisen (in einem Anhang), nähme einem solchen Roman nichts von seiner Qualität und Spannung. Im vorliegenden Roman ist die Liebesgeschichte mit dem Marienbader Psychiater erfunden – die Kur hat jedoch tatsächlich stattgefunden –, mit deren Hilfe Olga Trifonowa in Rückblenden ein mögliches – literarisch gelungenes – Psychogramm von Stalins zweiter Frau erstellt. Die geschichtlichen Ereignisse, die Aussagen über und von Stalin sowie das Krankheitsbild der Nadeschda Allilujewa sind historische Fakten.
Karla Hielscher zu „Die Einzige. Nadeschda Allilujewa – Stalins Frau“ von Olga Trifonowa, Deutschlandfunk / Büchermarkt – 10.08.2006
An der Seite Stalins
14 Jahre lang stand Nadeschda Allilujewa als seine zweite Frau an der Seite Stalins und begleitete seinen Aufstieg vom Revolutionär im Untergrund zum unumschränkten Diktator.
Am 8. November 1932 wurde sie mit einer Revolverkugel im Herzen tot aufgefunden.
Olga Trifonowa entwirft mit ihrer fiktiven Romanhandlung eine mögliche Version der Persönlichkeit von Nadeschda Allilujewa und der tragischen Geschichte ihrer Ehe, die auch die Geschichte des Wegs in eine blutrünstige Diktatur ist.
Was für ein faszinierender, dramatischer Stoff für einen biographischen Roman: das Schicksal von Stalins zweiter Frau Nadeschda Allilujewa, mit der er 14 Jahre lang – gerade in der Zeit seines Aufstiegs vom im Untergrund lebenden Revolutionär zum unumschränkten Diktator – sein Leben teilte. Nadeschda Allilujewa, die Mutter seiner beiden Kinder Wassili und Swetlana wurde am 8. November 1932, nach dem Bankett zur Feier des 15. Jahrestags der Oktoberrevolution im Schlafzimmer ihrer Kremlwohnung mit einer Revolverkugel im Herzen tot aufgefunden.
Fast alle Historiker gehen vom Selbstmord der schönen einunddreißigjährigen Frau aus, deren weißes Grabmal auf dem Prominentenfriedhof Nowodjewitschij in Moskau bis heute einen geheimnisumwitterten Anziehungspunkt bildet. Da der Freitod der jungen Stalin-Gattin als politischer Protest hätte verstanden werden können, wurde er sogleich vertuscht und ein pompöses Staatsbegräbnis für sie veranstaltet. Die Gerüchte und Spekulationen über ihren Tod sind deshalb nie verstummt.
Trotz neuen, erst nach der Wende zugänglichen Archivmaterials – etwa von zärtlichen Liebesbriefen des Ehepaars – wird über Nadeschda Allilujewas Leben wohl Vieles im Dunklen bleiben. Olga Trifonowa, die als Leiterin des Museums im „Haus am Ufer“, dem berühmt-berüchtigten Gebäudes, in dem die stalinistische Politprominenz wohnte, die historischen Quellen genau kennt, wählt daher für ihr Buch das in der heutigen Literatur weit verbreitete Genre der Fiction-Faction. Aber allein schon die nachweislichen authentischen Dokumente bieten einen einzigartigen Einblick in die Lebenswelt der bolschewistischen Revolutionäre vom Beginn des Jahrhunderts bis in die 30er Jahre hinein, als Stalins persönliche Terrorherrschaft sich fest etabliert hatte. Das war es wohl auch, was die Autorin zu ihrem literarisch anspruchsvollen Roman inspirierte: Hinter den politischen Ereignissen den Alltag dieser Menschen, ihre Gefühle und gegenseitigen Beziehungen zu erkunden.
Nadeschda Allilujewa stammt aus einer Familie von engagierten Revolutionären: Ihre Kindheit war geprägt vom Nomadenleben im Untergrund, den Verhaftungen und Gefängnisaufenthalten des Vaters, der häufigen Abwesenheit der Mutter, die – wie es im bolschewistischen Milieu durchaus üblich war – immer wieder auch Beziehungen zu anderen Männern hatte. Der enge Freund der Familie Allilujew, Stalin, hat die kleine Nadja schon als Dreijährige 1904 auf seinem Schoß gehabt, und als 17jährige Schülerin brannte sie im Jahr der Oktoberrevolution mit ihm von zuhause durch. Nach ihrer Heirat 1918 gehörten die Allilujews jedoch weiterhin zum innersten Herrschaftskreis um Stalin, der noch in den 20er Jahren in eher bescheidenen Kreml-Wohnungen und der Datschensiedlung Subalowo – mit den Molotows, den Woroschilows, den Mikojans u.a. – in einer Art bolschewistischer Großfamilie zusammenlebte.
Nadeschda – aufgewachsen mit den kommunistischen Idealen – arbeitete trotz ihrer 1921 und 1926 geborenen Kinder, die mehr mit Leibwächtern und Bediensteten als unter der Obhut ihrer Eltern aufwuchsen, zunächst im Sekretariat von Lenin und begann Ende der 20er Jahre ein Studium an der chemischen Fakultät der Industrieakademie.
Die Ehe der leicht aufbrausenden, stolzen Frau mit dem 22 Jahre älteren Stalin war offensichtlich von Anfang an voller Spannungen. In dem Maße wie Stalins Selbstherrschaft wuchs, scheinen sich die Eheleute einander entfremdet zu haben. Es ist nachgewiesen, dass Nadeschda strikt die Gewalt gegen die Bauern während der brutalen Kollektivierung ablehnte. In ihrem Sterbezimmer wurde eine Abschrift des gegen die Diktatur Stalins gerichteten Manifests einer linken Oppositionsgruppe gefunden. Aus Nadeschdas
Krankenakte geht hervor, dass sie an unerträglichen Migräneanfällen, Unterleibsschmerzen als Folge häufiger Abtreibungen und schweren psychischen Störungen litt, die sie mit Koffeintabletten bekämpfte, von denen sie süchtig geworden war. Sie wurde deshalb im Sommer 1930 zur Kur nach Karlsbad und Marienbad geschickt.
Hier nun knüpft Olga Trifonowa mit ihrer fiktiven Romanhandlung an und entwirft eine mögliche Version der Persönlichkeit von Nadeschda Allilujewa und der tragischen Geschichte ihrer Ehe, die auch die unheilvolle Geschichte des Wegs in eine blutrünstige Diktatur ist. Basierend auf der Innensicht der Hauptgestalt wird Nadeschda als aufrichtiger, komplexer aber labiler Charakter gestaltet. Durch ihre Liebe und Nähe zu Stalin gerät sie immer wieder in die fürchterlichsten Konflikte, die sie krank gemacht und zerstört haben. Im idyllischen böhmischen Kurort nun – fern von der ideologiebesessenen sowjetischen Welt der Not und um sich greifenden Angst – erinnert sie sich an ihr vergangenes Leben und ihre als immer unerträglicher empfundene Ehe.
Das literarische Verfahren ist motiviert durch den psychischen Zustand der kranken Nadeschda: Aus realen Erinnerungsfetzen, quälenden Alpträumen, Gedächtnisbruchstücken und Fiebervisionen setzt sich mosaikartig das Bild eines zerrissenen Lebens zusammen: glückliche Momente, wenn Stalin im Freundeskreis mit seiner schmeichelnden Tenorstimme georgische Romanzen und Kirchenlieder singt oder mit seinen Kindern herumalbert und Szenen, in denen sie seine Mitleidlosigkeit und Grausamkeit spürt und von ihm gedemütigt und beschimpft wird; das Misstrauen, das ihr als Stalins Frau im Sekretariat des dahinsiechenden Lenin und später von ihren oppositionell eingestellten Freunden entgegenschlägt, so dass sie immer mehr vereinsamt und sich nirgendwo dazugehörig fühlt; fröhliche Eindrücke von den gemeinsamen Sommerurlauben in Sotschi am Schwarzen Meer, und die Verzweiflung über Verhaftungen nahestehender altgedienter Revolutionäre; die Konfrontation mit Elend und Armut bei ihren Kommilitonen und die zunehmenden Schuldgefühle wegen ihrer eigenen privilegierten Stellung. In diesen Rückblenden gehen faktographische und fiktionale Elemente des Textes nahtlos ineinander über.
Die dazuerfundene Liebesgeschichte mit ihrem Marienbader Psychiater jedoch samt dessen psychoanalytischer Deutung ihrer Probleme wirkt konstruiert und künstlich. Nadeschda Allilujewas bewegende Lebensgeschichte bietet auch ohne diesen überflüssigen Handlungsstrang genügend Spannung, um den Roman ästhetisch zu tragen.
Nezavisimaja Gazeta
Sommer 1930: Nadeschda Allilujewa, ist unter fremdem Namen zur Kur in Marienbad bei Dr. Menzel, einem Schüler von C.G.Jung. Sie leidet an Kopfschmerzen und Schwermut. Bildern aus der Vergangenheit quälen sie. Mit 29 Jahren ist Stalins zweite Frau Mutter von zwei Kindern und studiert im dritten Jahr an der Industrieakademie. Ende des Sommers kehrt sie nach Russland zurück.
Als Freundinnen und Freunde auf der Akademie Nadeschda mit den Missständen und der Armut im Land konfrontieren, gerät sie immer mehr zwischen die Fronten von Staatsterror und oppositioneller Kritik.
Zu viele Menschen in ihrem Umfeld, Freunde, werden plötzlich verfolgt, verhaftet, verbannt. Überwachung und Verfolgung erzeugen ein Klima der Angst. Nadeschda zieht sich immer mehr in sich zurück, will ihr Studium beenden und arbeiten, um dann ihren Mann zu verlassen.
Doch am Abend nach den Feierlichkeiten zur Oktoberrevolution des Jahres 1932 endet ihr Leben …
„Nicht die politischen Intrigen (die zwar erwähnt, aber nicht ausführlich beschrieben werden) wecken das große Interesse in Trifonowa’s Roman, sondern die Menschen und der Ursprung ihrer Beziehungen.
(…) Der Roman stützt sich auf Dokumente und kommt praktisch ohne historische Klischees aus.“
Leseprobe
„Da es nicht ausgeschlossen ist,
ist es durchaus möglich.“
Iossif Stalin
Kapitel 1
Beide Fenster blickten nach Osten in einen Park mit hohen Bäumen, deren dichte Kronen das Zimmer in grünes Halbdunkel tauchten. Bei den Bäumen handelte es sich wohl um Buchen und Ulmen – zumindest stand einst in Nadeschdas Geografiebuch, dass in dieser Region Buche und Ulme heimisch seien. Das hatte sie vor zwanzig Jahren gelesen und würde es wohl noch in zwanzig Jahren wissen. Sie lernte für ihr Leben gern. So ist es schon immer gewesen: ob in der ärmlichen Wohnung hinter dem Newskaja-Stadttor in St. Petersburg, wo sie Hunger leiden mussten, oder jetzt, wo ein extra aus Deutschland oder gar aus Schweden bestelltes Reißbrett mit allem Drum und Dran in ihrem Schlafzimmer stand.
Als sie noch miteinander sprachen, pflegte Iossif im Scherz zu fragen:
„Woher hast du es nur? Deine Mutter ist eine dumme Kuh und dein Vater ist auch nicht gerade eine Leuchte.“
„Ist er doch!“, widersprach sie ihm.
„Na gut, na gut, ich nehme das zurück.“
„Er ist nur anders.“
„Anders als wer?“
„Anders als Leute, mit denen du dich umgibst – die sind berechnend, sie streben nach Macht und demütigen ihre Mitmenschen gerne.“
„Jetzt geht das wieder los!“
Das war zu der Zeit, als sie miteinander noch richtige Dialoge führen, richtig streiten und richtig schlafen konnten, wie es sich in einer Ehe gehört.
Das war einmal! Und nun … Buche und Ulme.
Sie musste die Zeit bis zum Zug irgendwie überbrücken – diese Pension, die sie bereits satt hatte, endlich verlassen, irgendwo frühstücken und anschließend den Zug besteigen und wegfahren.
Hier wurde ihr das Frühstück zu einer einzigen Tortur. Sie war Mahlzeiten im Kreise ihrer großen Familie gewohnt, doch das hier war etwas anderes: Einander fremde Menschen versammelten sich morgens, um – wie zu Hause – gemeinsam zu speisen. Verteilt auf die wenigen Tische, warteten sie, bis der immer freundlich lächelnde Kellner Petr in der schwarzen Kellnerschürze, die sich um seine fleischigen Hüften spannte, ihnen Kaffee, Brötchen und gummiartige Würstchen servierte.
Früher schloss sie leicht Freundschaften. Einmal, vor einer sehr langen Zeit, als sie noch in einem schönen Haus auf dem Sampsonijewski- Prospekt – oder vielleicht auch in der Roschdestwenskaja- Straße, das ist jetzt unwichtig –, in St. Petersburg wohnten, wurde in Nadeschdas Gymnasium Geld für die Staatsdiener gesammelt. Warum gerade für die Staatsdiener und aus welchem Anlass – das könnte sie nicht mehr sagen. Aber daran, wie sie gesagt hatte: „Ich werde nichts spenden!“, erinnerte sie sich sehr gut, weil die Klasse bei diesen Worten verstummt war und jemand verlegen murmelte:
„Sie haben wohl Ihr Geld zu Hause vergessen …“
„Nein, ich habe Geld mit, ich möchte nur nicht für Staatsdiener spenden!“
„Ach, daher weht der Wind? Sie ist eine Bolschewikin!“
Eine gute Woche wurde sie damit gehänselt und dann war Schluss damit. Sie war ob ihres fröhlichen Naturells, ihres Herumtollens in den Pausen, ihrer Geradlinigkeit, ihrer widerspenstigen Locken, ihrer Hilfsbereitschaft in der Klasse beliebt und weil es bei ihr die stimmigsten und üppigsten Geburtstagsfeste gab. Doch nun kann und will sie keine neuen Bekanntschaften mehr schließen – wozu auch? Dabei war früher einmal ein volles Haus bei ihnen die Regel: Mutter, Vater, die älteren Geschwister Pawel, Fjodor und Anna, der eine oder andere Verwandte, Freunde, die gerade aus der Verbannung zurückgekehrt waren oder kurz vor einer Verbannung standen. Und auch so mancher von Mutters ehemaligen Liebhabern oder eine ihrer zukünftigen Liaisons.
So war es in ihrer Kindheit. Aber auch heute noch gleicht ihr Haus einer Arche Noah. Zuweilen versammeln sich auf ihrer Datscha in Subalowo bei Moskau an die dreißig Personen am Tisch. Iossif – sonst ein großer Freund von ausgedehnten und fröhlichen Tafelgesellschaften – pflegt in letzter Zeit die Nase zu rümpfen: „Sieben von den Reinen und sieben von den Unreinen.“
Wen zählt er zu den Unreinen?
Jedes Mal einen anderen. Unveränderlich bleibt nur seine Sympathie für Jewgenija, die Frau seines Schwagers Pawel, die Antipathie für seinen Schwager Fjodor und beinahe schon blinder Hass gegen Jakow, seinen Sohn aus erster Ehe. Jewgenija ist ein klarer Fall. Alle lieben Jewgenija. Sogar Lenin hatte einen Narren an ihr gefressen. Doch woher dieser Hass gegen Jakow? Zum Teil ist es wohl auch Nadeschdas Schuld. Wenn es sein muss, kann sie unehrlich und ausweichend sein, doch Iossif gegenüber verspürt sie einen geradezu krankhaften und genussvollen Zwang zur Aufrichtigkeit. So war es schon immer, seit dem ersten Tag ihrer Beziehung, als sie ihm in der Wohnung in der Roschdestwenskaja- Straße auf dem dunklen Flur zwischen dem Bad und seinem Zimmer begegnet war und leise antwortete: „Ich auch …“ Eine Gewohnheit aus der Schulzeit – die Erwachsenen darf man nicht anlügen.
Später hatte es natürlich einen anderen Grund: Er war von so vielen Lügen umgeben und diese Lügen verflochten sich immer dichter … Aber zurück zu Jakow. Jakow nach Moskau zu holen, war die Idee seines Onkels Alexander Swanidse, des Bruders von Iossifs erster Frau Jekaterina, gewesen; doch Marussja, dessen schlaue Frau, hatte keine Lust, sich die Freude am Leben mit den Sorgen um den schwierigen Jungen zu trüben und so landete Jakow bei Nadeschda und Iossif, in ihrer winzigen Kreml-Wohnung auf dem ungemütlichen düsteren Flur, auf dem jeder Schritt gespenstisch hallte. Nadeschda musste damals einen herzzerreißenden Brief schreiben – an Swerdlow, wenn sie sich richtig erinnerte. Man wies ihnen eine andere Unterkunft zu, die aber keine echte Verbesserung war, weil Jakow in einer mit Vorhang abgetrennten Ecke schlafen musste. Iossif wurde immer gereizter und ungehaltener. Sie merkte es und tat, als merkte sie es nicht, bis Iossif eines Tages explodierte, als er sie beide in der Küche angetroffen hatte, wo Nadeschda ihrem Stiefsohn bei Schularbeiten half. Jakow war in der Tat ein schlechter Schüler und dank der bedingungslosen Liebe der alten Keke – Iossifs Mutter und seiner Großmutter – auch ein echter Faulpelz.
Iossif marschierte im Schritt eines Befehlshabers durch die Küche – sie konnte sich nicht erinnern, das Leder seiner Stiefel je zuvor so bedrohlich knarren gehört zu haben. Eine Minute später wurde sie ins Arbeitzimmer zitiert (Jakow warf ihr einen besorgten Blick zu und berührte leicht ihren Ellbogen in einer schüchternen Geste der Ermunterung).
Zunächst erwiderte sie auf die Frage nach Jakow, sie könne in seiner Gesellschaft sie selbst sein und möchte ihrem Stiefsohn Wärme geben. Wie sollte es auch anders sein? Er sei eine Waise und müsse ohne seine Mutter aufwachsen, ein schüchterner, nachgiebiger, gutherziger, zärtlicher Junge, der es schwer habe – muss bei der Stiefmutter leben und Wassja, sein Halbbruder, piesacke ihn ständig mit seiner Eifersucht …
Zärtlich. Das hätte sie nicht sagen sollen. Damals nannte er sie zum ersten Mal eine Schlampe – „wie die Mutter so die Tochter“. Einige Jahre später, 1925, (Jakow war siebzehn und sie, seine Stiefmutter – vierundzwanzig), kam es zu einer furchtbaren Szene. Es fing damit an, dass sie vorschlug, Jakow nach oben, in das winzige Zimmer am Ende des Flurs zu verlegen.
Wie üblich, reagierte Iossif zuerst gelassen, um ihr am Abend Beleidigendes zu unterstellen – „willst du ihn noch näher bei dir haben?“ –, den Vorhang, hinter dem Jakow auf dem Kunstledersofa schlief, beiseite zu schieben, Kissen und Decke auf den Boden zu werfen, das Nachtkästchen zu durchsuchen, den Bettlaken vom Sofa zu reißen. Jakow stand in seinem Nachthemd aus Nesselstoff da – blass und verschreckt – und wusste nicht, wie ihm geschah. Was dachte er dort zu finden? Liebesbriefe? Nadeschdas Unterwäsche?
Das war geisteskrank.
Damals wurde sie während eines Anfalls von Fieber zum ersten Mal von einer dieser seltsamen Visionen heimgesucht, die sie bis heute verfolgen.
Sie warf sich im Bett hin und her, riss den mit Essig getränkten Umschlag von der Stirn. Iossif und Mutter saßen an ihrer Seite, doch Nadeschda sah sie nicht. Sie sah ein ganz anderes Bild: Ein unerträglich heißer Mittag, eine Bahnstation mitten im Nirgendwo, Zugwaggons, Militärs in undefinierbaren Uniformen und Jakow, der nur mit seiner Unterwäsche bekleidet, die Hände über dem Kopf, vor ihnen steht. Einer der Militärs – der gefährlichste von allen – ist Iossif. Er steht nur da und starrt Jakow an. Sie muss geschrieen und Iossifs Namen gerufen haben, denn hie und da materialisierte er sich, streichelte ihr Gesicht, flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Die Krankheit hielt lange an, einmal setzte eine starke Blutung ein, Alexandra Julianowna Kanel war bei ihr und noch ein anderer Arzt – ein groß gewachsener, grauhaariger Mann, der nach teuerem Eau de Toilette roch. Nachdem er sie untersucht hatte, gab er ihr mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck einen kurzen Blick direkt in die Augen. Ja, ich weiß, ich bin ein Krüppel, hätte sie am liebsten auf diesen Blick geantwortet. Erst vierundzwanzig und schon sechs Abtreibungen. Dass sie Swetlana noch bekommen konnte, war ein Wunder.
Iossif erbarmte sich nie über sie.
In Zarizyn hatte ein Militärchirurg die Abtreibung vorgenommen. In einem Zugwaggon. Sie erinnerte sich an die höllischen Schmerzen und die Stimme des Chirurgen: „Bald sind wir unsren Makel los und leben wieder ganz famos.“ Damals tauchte Iossif erst nach fünf Tagen an ihrem Bett auf. Sie jammerte in das Kissen wie ein Katzenkind und er drückte ihr wie einem Katzenkind, das böse gewesen war, mit eiserner Hand den Nacken zusammen. Danach bat sie ihn nie wieder, sich ihrer zu erbarmen und er schien die wortlosen Duelle mit seiner Frau, die zu stolz war, um sich zu beklagen, zu genießen. In ihren Adern floss vielerlei Blut, doch das Erbe der Polen und der Zigeuner schien am stärksten durchzuschlagen, denn sie hatte ihren Stolz und der grenzte beinahe an Hochmut. Ihr Vater meinte einmal zu ihr: „Wir sind vom gleichen Schlag. Über solche Naturen wie wir heißt es in der Ukraine, sie leiden lieber, als dass sie wie alle anderen seien.“
Und nun litt sie so schlimm wie nie. Hier, in Karlsbad, hatte der hagere Frauenarzt sie pflichtbewusst nach ihren Abtreibungen gefragt und sie erwiderte in ihrer auf Wahrheitstreue bedachten Art, sie habe bereits zehn hinter sich. Der Arzt zuckte bei dieser Antwort sogar zusammen und hob seine Augen von der Karteikarte:
„Sie leben mit einem Tier zusammen, Frau Eichholz.“
Wenn er wüsste, von wem er spricht! Doch sie reiste mit deutschen Papieren. Sie war Frau Eichholz aus Berlin. ‚Eichholz‘ war übrigens der Mädchennahme ihrer geliebten Großmutter Magdalina, die in Tiflis gelebt hatte und seinerzeit auf mysteriöse und absurde Art und Weise unter den Rädern eines Wagens ums Leben kam.
„Zehn also … Das heißt, Sie dürfen keine Kinder mehr bekommen und die nächste Abtreibung könnte ihr Tod sein.“
Er erklärte ihr den Sinn und Zweck jeder einzelnen Kurbehandlung und verordnete ihr Moorbäder und spezielle Tampons. Am nächsten Tag gab er ihr eine überraschend schön ausgeführte Tabelle mit rot und grün eingekreisten Tagen und teilte ihr nach einer kleinen Pause mit, einige Anzeichen deuteten auf vorzeitiges Klimakterium hin.
„Ein sehr vorzeitiges. Der erste Fall in meiner Praxis. Und Sie müssen sich unbedingt von einem Orthopäden beraten lassen – wegen der forcierten Ausschwemmung von Kalzium.“
Orthopäde, Tampons, Bäder – was würde das helfen? Ein bisschen Glück war alles, was sie brauchte. Es gab einmal die Zeit, in der sie Glück empfand. Am Anfang gab es bittersüßes, heimliches Glück in Petrograd mit den Rendezvous auf dem Sabalkanski- Prospekt, wo sie in einer Wohnung, deren Besitzer verreist waren, nach dem Rechten sehen musste, und der kalten Wand, die sie im Nacken spürte, wenn sie sich zufällig in der dunklen Ecke vor dem Badezimmer in der Wohnung ihrer Familie begegneten und er sich über ihr Gesicht beugte, um seine Zähne in einem schmerzhaften Kuss an ihre zu pressen.
Das Glück begann in jenem nasskalten September 1917 und stellte sich noch viele, viele Male ein. Und irgendwann blieb es aus. Das war unvermeidlich – der Gesichtsausdruck ihres Vaters an jenem Tag, an dem er alles erfahren hatte, war ein Omen gewesen. Wenn sie sich richtig erinnerte, war er damals zu den Goguas gelaufen und als er zurückkam, war sie schon zu Hause. Mutter schrie sie an: „Dumme Gans! Ich habe es immer schon gewusst – du bist eine dumme Gans! Wie konntest du nur? Du wirst deine Dummheit noch oft bereuen!“ Vater sagte nichts und starrte sie nur unentwegt an.
Mutter sollte Recht behalten, war aber mit ihrem jetzigen Leben voll und ganz zufrieden, während Vater sich nun angewöhnte, stundenlang, bis in die Nacht hinein dazusitzen und auf seinen Schwiegersohn zu warten, von dem er sich Antworten erhoffte auf Fragen, die ihn quälten und der dann doch nicht kam, sodass er jedes Mal unverrichteter Dinge wieder gehen musste.
Zwanzig Tage lang ging sie gewissenhaft zu den verordneten Kurbehandlungen und trank Heilwasser, doch die Kopfschmerzen suchten sie immer wieder heim und waren bisweilen so unerträglich, dass ihr übel wurde. Und auch die Schwermut war nicht bereit, ihr eine Verschnaufpause zu gönnen. Nadeschda unternahm ausgedehnte Spaziergänge durch den Kurpark, trank Kaffee im kleinen – nur ein paar Tische – Café an der Brücke über die Teplá und versuchte, nicht an die koffeinhaltigen Kapseln zu denken, die in ihrer Handtasche lagen. Das Koffein verscheuchte die Schwermut, doch wenn sie anfangs noch mit einer halben Kapsel ausgekommen war, brauchte sie jetzt zwei davon.
Sie musste sparsam damit umgehen, denn sie wollte noch nach Berlin reisen … Nein, damit zu sparen ist nicht notwendig, Pawel ist ein Freund, Pawel wird alles verstehen, er wird mir helfen. Pawel stand ihr von jeher am nächsten und es war kein Zufall, dass sie sich so ähnlich waren – das Zigeunerblut schlug bei ihnen beiden besonders deutlich durch.
Hauptsache, ihr Koffein-Vorrat reichte bis Berlin. Und der war nicht gerade klein. Kein Wunder, dass Alexandra Julianowna sich jedes Mal einen Kommentar verkneifen musste, bevor sie ihr seufzend ein Rezept ausstellte. Nadeschda wusste den Grund für die Seufzer der Ärztin – die benötigte Dosis wuchs von Mal zu Mal, was ihr selbst auch Sorgen bereitete. Daher auch die Besuche im Café an der Brücke. Sie hatte irgendwo gelesen, dass langes Starren auf munter dahinplätschernde Wassermassen die beste Psychotherapie sei. Das nahm sie sich zu Herzen und starrte auf den Fluss. Eine schöne Frau mit dunklem Teint, schwarzen Augenbrauen, deren Schwung an die Flügel einer Schwalbe erinnerte, und langen, schlanken Beinen. Hut aus Paris, elegantes helles Kleid mit breiten, blauen Streifen – Jewgenijas Geschenke aus Berlin. Auch die Garderobe der Kinder hatte Jewgenija aufgebessert. Gottlob können ihre Sprösslinge jetzt auch etwas anderes anziehen als einfache Satinhemden und Kleider, die Oma aus ihren eigenen alten Sachen für sie nähte – nun hatten sie auch Jumper und Mützen und dick besohlte Schnürstiefel. Marussja Swanidse – obwohl selbst eine Modenärrin – war nicht so großzügig mit ihren Geschenken, vergaß aber nie, Nadeschda zum Geburtstag und zum Neuen Jahr mit einem Fläschchen Chanel N° 5 zu beglücken, ihrem Lieblingsparfüm, von dem Iossif meinte, es erinnere ihn an den Bürgerkrieg, weil es nach Pferdepisse rieche. Das höchste der Gefühle war für ihn Seife, die nach Walderdbeeren duftete. Und sonst duldete er vielleicht gerade noch das Parfüm, das Jewgenija benutzte. Nach Walderdbeeren riechende Seife pflegte Ljolja Treschtschalina – die einflussreichste Dame im Apparat des Zentralen Exekutivkomitees und Iossifs alte Bekannte noch aus den Bürgerkriegszeiten – in rauen Mengen zu verwenden.
Schwägerin Jewgenija war eine wunderbare Frau – schön, schlagfertig, klug, eine treue Freundin. Und doch verspürte Nadeschda tief in sich drin eine Unruhe, wenn Pawels Frau in der Nähe war. Das hing mit Iossif zusammen. Ihm gegenüber legte Jewgenija eine Ungezwungenheit an den Tag, die beinahe schon an Respektlosigkeit grenzte. Erstaunlicherweise schien Iossif ihre Art nicht nur zu akzeptieren, sondern fühlte sich dadurch sogar geschmeichelt. Das weckte in Nadeschda das düstere Gefühl der Eifersucht, das an ihr nagte und sie in Gegenwart der beiden hölzern wirken ließ. Sie litt darunter, machte sich Vorwürfe wegen solch alberner Gedanken und spielte die Zimperliese, doch zum Glück schien niemand ihre inneren Qualen zu bemerken: Alle hatten sich längst an ihre etwas trockene und zurückhaltende Art gewöhnt. Und nur Jakow sah sie manchmal überrascht und verunsichert an. In dieser riesigen Familie war er der Einzige, der ihre Gemütsregungen zu verstehen wusste und auch die kleinste Veränderung in ihrem Tonfall wahrnahm. Nur er allein merkte, wenn sie gereizt oder müde war oder unerträgliche Kopfschmerzen hatte, und machte sofort genau das Richtige: brachte ihr eine Tasse heißen Tees mit viel Zucker, eine Decke, ein spannendes Buch und, was noch wichtiger war, versuchte Wassja und Swetlana mit etwas zu beschäftigen, wenn sie zu ihrer Mutter vordringen wollten, um sich gegenseitig zu verpetzen. Überhaupt schien Jakow den Launen und Leiden seiner Mitmenschen schutzlos ausgeliefert zu sein. Das manifestierte sich in seiner übertrieben rücksichtsvollen Art und darin, dass er stets im Hintergrund bleiben wollte. Allerdings wusste Nadeschda genau, wie der junge Mann unter den Grobheiten seines Vaters, unter Annas naiver Taktlosigkeit litt und wie nah ihm die ständige Demütigung seiner Tanten – der Schwestern seiner verstorbenen Mutter – ging, die Iossif stets um etwas anbettelten und die stets über die Härten des Lebens klagten. Er spürte auch die unterschwellige Verachtung, die Marussja Swanidse, die Frau seines Onkels Alexander, für ihn empfand. Neben der Stiefmutter waren sein Onkel und seine Großmutter Keke, der er lange Briefe in Georgisch schrieb, wohl die einzigen Menschen, die ihm nahe standen. Doch Onkel Alexander verreiste oft und für lange und so lag es an Nadeschda, alles daran zu setzen, dass Jakow sich im Hause seines Vaters wohler fühlte. Aber was konnte sie alleine schon ausrichten, wenn ihr Stiefsohn sich nicht selbst gegen die Gemeinheiten dieser Welt wehren konnte?
Sie dachte oft an seine so früh verstorbene Mutter und hätte gern gewusst, wie Iossif Jekaterina behandelte und wie ihr Leben mit ihm gewesen sein mag.
Vor langer Zeit hatte sie Iossif einmal nach seiner ersten Frau gefragt:
„Was war Jekaterina für ein Mensch?“
„Frag mich nie wieder nach ihr! Sie war eine arme Närrin!“, war seine lapidare Antwort.
Ob diese Worte aus dem Munde eines ehemaligen Priesterseminaristen Bedauern ausdrücken sollten oder bloß ironisch gemeint waren, vermochte Nadeschda nicht zu erkennen. Dass aber auch Jakow ein armer Narr war, spürte sie sehr deutlich. Sie spürte es und machte sich große Sorgen um ihn. Und sie behielt Recht: Sein Selbstmordversuch bestätigte ihre Angst um ihn. Er wollte sich in der Küche eine Kugel durch den Kopf jagen, angeblich aus Liebeskummer, doch Nadeschda wusste den Grund besser: In Wahrheit war es eine Geste der Verzweiflung, ein letzter Versuch, endlich Worte des Mitgefühls und der Liebe seinem Vater zu entlocken. Und alles, was er zu hören bekam, war: „Pfff, das ging aber daneben! Du bist nicht einmal im Stande, dich zu erschießen!“
Und was wollte sie über Jakows Mutter wissen? Dass sie eine Schönheit war, daran erinnerte sich jeder, der sie gekannt hatte. Dass sie für sich und ihre Schwestern wunderschöne Kleider nähte, wusste Nadeschda von Jekaterinas Schwester Mariko. Und Vater erzählte Nadeschda, wie er 1907 in Baku zu Iossif nach Hause ging, um eine innerparteiliche Angelegenheit zu besprechen. Iossif lebte damals in einer armseligen Lehmhütte auf der Bailow-Landzunge, die nur ein Zimmer hatte. Vater tauchte auf, als Iossif und seine junge Ehefrau gerade bei Tisch saßen. Beim Anblick eines Fremden versteckte sich Jekaterina samt ihres Tellers unter dem Tisch und blieb dort so lange, bis der Fremde sich wieder verabschiedete. Und Iossif benahm sich, als hätte er das gar nicht bemerkt. „Weißt du, sie war so jung und so schön, dass ich mich immer an sie erinnern werde“, sagte Vater zum Schluss.
Vor zwei Jahren, 1928, floh Jakow nach seinem Selbstmordversuch vor Iossifs Hohn nach Leningrad, zu ihrem Vater Sergej Jakowlewitsch, der sich seinerseits vor seiner streitsüchtigen Frau dorthin gerettet hatte. Und auch Nadeschda suchte kurz darauf Zuflucht bei ihrem Vater nach einem Streit mit Iossif. Eines Abends, als sie und Jakow beisammensaßen, hatte sie im Halbdunkel des Zimmers plötzlich die Eingebung, er werde nur ein kurzes Leben haben und mit dreiunddreißig den Tod finden. Warum ausgerechnet mit dreitrifonowa_ unddreißig? Sie glaubte nicht an Gott und in der Schule gehörte Religion nie zu ihren Lieblingsfächern – damals hatte sie eher Musik, Literatur und allerlei Ideale im Kopf. Dass sie mit Religion nichts am Hut hatte, war auch nicht verwunderlich – ihre ganze Familie war aktiv an der Revolution und dem anschließenden Bürgerkrieg beteiligt.
Woher kam dann diese Vorahnung? Aus ihrem Fiebertraum, in dem sie Jakow in Unterwäsche und mit Händen über dem Kopf gesehen hatte?
Oder hatte die Vorahnung ihre Wurzeln in etwas, was Nadeschda an einem Septemberabend 1917 erlebt hatte? Sie war auf dem Weg nach Hause und der Gedanke, sie könnte ihm begegnen, fuhr ihr in die Beine. Spontan entschloss sie sich, die Stufen zur Kathedrale des Heiligen Samson zu erklimmen, betrat das Gotteshaus und bat mit kindlicher Inbrunst darum, dass ein gewisser jemand sie so sehr liebte wie sie ihn. Aber Gott sah sie nur missbilligend an und sein Antlitz sah genau so aus, wie Jakows Gesicht in dem dämmrigen Zimmer – große Augen voller Schwermut, eingefallene Wangen, Grübchen im Kinn.
Noch in Moskau hatte Pawel ihr genau beschrieben, wie sie von Karlsbad nach Berlin kommt: Mit dem Zug bis Prag, aber nicht nach Smíchov, sondern zum Hauptbahnhof und von dort gab es Direktzüge nach Berlin. Und einen Fahrplan hatte er ihr auch mitgegeben. In diesem Fahrplan mit den ordentlichen, mit einem Lineal gezeichneten Spalten manifestierte sich Pawels akribisches, bedachtsames, ruhiges Wesen.
Nadeschdas Liebling war Fjodor. Und das nicht nur, weil Fjodor ein unglücklicher, psychisch kranker, zur Einsamkeit verurteilter Mann war. Nadeschda, die es verstand, eigene Handlungen und Beweggründe nüchtern zu analysieren, war sich bewusst, dass hinter ihrer Affinität zu Fjodor auch der ewige Frust über ihre Mutter steckte. Eigentlich war es mehr als bloßer Frust, denn sogar vor Iossif pflegte sie Mutter nur halbherzig in Schutz zu nehmen, ganz anders als den Rest der Allilujew-Sippe – eher aus Pflichtgefühl denn aus einer Überzeugung heraus.
Seine Schwiegermutter Olga Jewgenjewna nannte Iossif hinter ihrem Rücken stets ‚blöde Kuh‘ und ließ keine Gelegenheit aus, um seinem Ärger über sie Luft zu lassen. Wenn Mutter einmal versehentlich (oder doch nicht?) einen seiner Briefe an Nadeschda öffnete, brüllte er erzürnt: „Blöde Kuh! So dumm kann man gar nicht sein!“
Eine Weile hatte er Olga Jewgenjewna gar verboten, ihre Nase in der Kreml-Wohnung zu zeigen und hieß sie in ihrem Mauseloch in Subalowo bleiben und ihm nicht unter die Augen kommen. Dazu war es nach dem Hausgeschwätz der Schwiegermutter über die triste Lage auf dem Land gekommen. „Diese alte Schachtel, die selbst wie eine Made im Speck lebt und auch noch das Hauspersonal schikaniert, setzt dir Flausen in den Kopf, erzählt dir Ammenmärchen, die sie von anderen dummen und beschränkten Weibern aus Tiflis hört!“, brüllte er.
„Ich brauche keine Ammenmärchen aus Tiflis, mir genügen die Berichte meiner Kommilitonen von der Industrieakademie, von denen viele vom Land kommen oder dort als Beauftragte in Sachen Kollektivierung unterwegs gewesen sind.“
„Deine Akademie ist ein Nest von Rechtsabweichlern, da sollte man endlich einmal Ordnung schaffen.“
Iossif sollte Recht behalten: In der Debatte vor dem Parteitag unterstützte die Industrieakademie den so genannten rechten Flügel der Partei, die Parteikonferenz endete in einem Debakel – zum Parteitag wurden die „falschen“ Genossen delegiert. Und da preschte Nikita Chruschtschow mit seinem Artikel in der Prawda vor, die Alten wurden aus der Parteizelle verjagt und Nikita wurde als ein Genosse, der konsequent die Linie des Zentralkomitees verfolgte, zum Sekretär der Parteizelle gekürt. Bis dahin hielt Nadeschda recht viel von ihm, denn er und kein anderer hatte ihr von seiner Dienstreise in eine der Patenkolchosen der Industrieakademie und von den schlimmen Zuständen, die dort herrschten, berichtet. Doch als sie ihm einmal nach seinem Aufstieg zum Sekretär der Parteizelle auf dem Gang begegnet war (sie wollte gerade ihr Stipendium für die Sommermonate abholen) und er vor ihr zu scharwenzeln begann – „Als neuer Sekretär der Parteizelle würde ich dich gerne in die Parteiarbeit einbeziehen, Nadja, und …“ – konnte sie es sich nicht verkneifen, Nikita mit einem kaltschnäuzigen Glückwunsch zu unterbrechen – „Meine Gratulationen, Sie haben es verdient“ – und ihm einfach den Rücken zu kehren.
Zu ihrem Erstauen wurde Iossif nicht wütend, als sie ihm von ihrer Begegnung mit Nikita und dem vermeintlichen Glückwunsch erzählt hatte.
„Er ist wie alle anderen, aber du solltest vorsichtiger sein mit deinen Bewertungen, vergiss nicht, du bist nicht nur mein Tatka- Schatz, sondern auch noch die Frau des Generalsekretärs der Partei. Und merke dir – jeder Mensch besteht zu neunzig Prozent aus Dreck.“
„Das stimmt so nicht: weder Vater noch Pawel noch Fjodor …“
„Lass Fjodor aus dem Spiel, er zählt nicht und bitte setzt ihn am Tisch so hin, dass ich ihm beim Essen nicht zusehen muss. Sogar seiner Mutter wird davon schlecht, aber wie komme ich dazu, es ertragen zu müssen?“
Das stimmte: Mutter mochte Fjodor nicht, an ihm störte sie einfach alles – seine Essensgewohnheiten, sein Gang, sein Schweigen. Dabei war sie es, die ihn im Wissen um seine Verletzlichkeit und die Zerbrechlichkeit seiner Psyche davor bewahren hätte sollen, im Bürgerkrieg als Soldat an die Front zu gehen. Fjodor war für ein Leben im stillen Kämmerlein geschaffen, die Außenwelt machte ihm schon als Kind Angst. Nadeschda erinnerte sich noch daran, wie er nach einem Besuch im Zoo zu Hause geweint hatte vor Mitleid mit den Tieren.
Mutter ließ die Kinder nie zu einer Last für sich werden. Sie hatte sie oft genug bei gütigen, netten, fremden Leuten abgegeben. So lebte Nadeschda oft und jeweils für längere Zeit bei der Familie Rschewski, die mit den Eltern befreundet war, und Anna – bei Vaters Verwandten, die selber Not litten, oder bei der Großmutter in Tiflis. Und wie konnte Mutter der damals sechzehnjährigen Nadeschda nur erlauben, wochenlang bei einer Freundin zu wohnen? Allerdings hätte sie es ihrer Tochter auch beim besten Willen kaum verbieten können. Erstens waren sie und Iossif damals schon Mann und Frau und zweitens pflegte Nadeschda stets das zu tun, was sie für richtig hielt. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr war sie für den Haushalt zuständig und wenn Mutter sich mit dem jeweiligen Liebhaber wieder einmal aus dem Staub gemacht hatte, verwaltete Nadeschda auch das Familienbudget.
Und auch jetzt tat sie das, was sie für richtig hielt. Besser gesagt das, was der hagere Dr. Stary für richtig hielt.
Dr. Stary meinte, eine Moorbäderkur im benachbarten Marienbad würde Nadeschda gut tun und vor allem (eine kleine Pause) hätte sie dort die Gelegenheit, den unvergleichlichen, unübertroffenen Dr. Menzel – einen Schüler des großen Carl Gustav Jung – aufzusuchen. „Frau Eichholz, ihr Nervensystem ist stark beeinträchtigt und die stimulierenden Medikamente machen Sie nur abhängig und verschärfen gleichzeitig ihre Probleme.“ Kurz und gut, der gute Stary hatte sie durchschaut. Umso besser – nun bot sich ihr ein Fluchtgrund. Und eine Flucht war genau das, was sie schon immer so verlockend fand. Einiges über Marienbad wusste sie von Maxim Gorki. Er selbst, sein Sohn, der auch Maxim hieß, und dessen Frau seien bereits öfter in diesem bezaubernden Städtchen mitten in den Bergen gewesen, in dem zahlreiche russische Dichter, unter anderem auch Gontscharow, Gogol und Leskow zur Kur zu weilen pflegten und von den deutschen Dichtern – kein geringerer als der große Goethe höchstpersönlich. Ihm zu Ehren trage das beste Hotel der Stadt den Namen Weimar. Die Heilquellen und die Moorbäder seien sehr wohltuend, die Küche sei vorzüglich und das Klima ideal für Lungenkranke. Und hatte Dr. Isserson nicht eine verschleppte Bronchitis bei ihr diagnostiziert? Aber die Bronchitis hatte mit Nadeschdas Entscheidung rein gar nichts zu tun – sie brauchte einfach etwas Zeit für sich selbst, um das aufzuarbeiten, was sich in den dreizehn Jahren ihrer Ehe auf dem Boden ihres Bewusstweins, ihrer Psyche abgesetzt hatte und nun Nacht für Nacht an die Oberfläche drang und ihr die Brust zusammenpresste. Sie saß auf der gusseisernen Bank und wartete auf den Zug nach Marienbad. Im Nacken drückten die vertrauten Schmerzen. Die Luft war schwül und feucht wie in Batumi, das Nadeschda wegen der widerlichen zottigen Palmen und des Geruchs angebrannten Lammfleisches, der in dieser Stadt am Schwarzen Meer ständig in der Luft hing, nicht mochte. Hier war alles anders bis auf die starken Kopfschmerzen, zu denen sich nun auch Hitzewallungen gesellten. Vorzeitiges Klimakterium. Ihr erschien das wie eine Gnade: keine Abtreibungen mehr und auch … keine Kinder. Das Studium, die Familie und die Partei nahmen Nadeschdas ganze Kraft und Zeit in Anspruch. Vor der Abreise war es zwischen ihr und Iossif zu einer ihrer üblichen unerquicklichen Diskussionen gekommen, weil sie gemeint hatte, dass bei Mitarbeitern, die verantwortungsvolle Posten bekleiden, das Bildungsniveau unter den Parteilosen höher sei als unter den Parteimitgliedern.
„Woher hast du das?“
„Aus einer Broschüre über den Staatsapparat, die ich als Vorbereitung auf eine Prüfung lesen musste.“
„Und was schreiben sie in dieser Broschüre?“, fragte Iossif, wobei er beim „Ü“ die Lippen verächtlich spitzte.
„Zum Beispiel, dass es im Volkskommissariat für Außenhandel fast neunzig Prozent der Fachkräfte Hochschulbildung haben, wobei die Mehrheit nicht bei der Partei ist, während im Kollegium nur Parteimitglieder sitzen, von denen aber nur vierzig Prozent ein Hochschuldiplom vorweisen können und zehn Prozent haben überhaupt nur eine Elementarschule besucht.“
„Das ist ja interessant. Und was steht noch darin?“
„Etwa, dass alle Kollegiumsmitglieder schon vor 1917 Mitglieder der Partei gewesen sind, während der Kader – die Referenten, die Inspektoren und die Instruktoren – wenn überhaupt, dann erst nach 1920 beigetreten sind. Die Partei muss junge Frauen mehr fördern, um sie dazu zu bringen, Mitglied zu werden beziehungsweise um ihnen ein Hochschulstudium schmackhaft zu machen.“
„Da haben wir es wieder: Falsche Schlüsse anhand von objektiven Zahlen. Die Partei braucht etwas anderes. Die Partei braucht eine Säuberung.“
In die Station rollte ein ulkiger Zug ein: eine kleine Lokomotive und drei Waggons. Aus dem ersten Waggon stiegen sehr gesittet Pfadfinder in hellblauen Hemden und grauen Knickerbockern aus. Nachdem sie sich paarweise auf dem Bahnsteig aufgestellt hatten, marschierten sie, angeführt von ihrem hoch gewachsenen, mit einer markanten Nase ausgestatteten Gruppenleiter, der die gleiche Uniform wie seine Schützlinge trug, zum Ausgang. Dort angelangt, fingen sie wie auf ein Kommando an, sich mit ernsthaften Mienen vom Gruppenleiter zu verabschieden und ihm für alles zu danken. Danach rückten sie alle in gleicher Manier die Rucksackriemen auf den Schultern zurecht und zerstreuten sich in alle Richtungen. Nadeschda versuchte sich ihren Sohn Wassja in einer vergleichbaren Situation vorzustellen: Bestimmt würde er aus der Reihe tanzen, durch laute Zurufe auffallen, Grimassen schneiden und seinen Rucksack hinter sich herschleifen. Ihre letzte Hoffnung war Alexander Murawjow, der neue Erzieher. Er nahm Wassja und dessen Freund Tom zum Angeln mit, übernachtete mit den Kindern in selbst gebauten Laubhütten, sammelte mit ihnen Nüsse und Pilze, züchtete Kaninchen und kümmerte sich mit den Jungen um Igel und Nattern und sonst alles, was im Wald kreucht und fleucht. Das Beste, was sie für ihre Kinder tun konnte, war gute Erzieher für sie zu finden, allein Wassja machte allen Schwierigkeiten und war bisweilen unerträglich, schlug und piesackte seine kleine Schwester, doch wenn Nadeschda Iossif darum bat, den Rotzlöffel zur Räson zu bringen, lächelte er nur und bot dem Bengel scherzhaft eine Zigarette an.
Gott o Gott!, runzelte Nadeschda die Stirn und erhob sich von der Bank, um dieses unerfreuliche Bild und den Gedanken daran, in den eigenen Kindern nur das Schlechte zu sehen, zu verscheuchen. Im gleichen Augenblick trat der Bahnsteigaufseher an sie heran, um ihr zu sagen, sie solle langsam einsteigen – der Zug fahre in wenigen Minuten ab. Zeiten und Zahlen bereiteten ihr schon immer Probleme. Der Zug passierte kleine Häuser, die in den Gärten voller goldund lilafarbener Früchte standen, und fuhr in den Wald hinein, der von rauchigen Sonnenstrahlen durchdrungen war. Sie rückte ganz nah ans Fenster. Die kleine Lok seufzte sorgenvoll auf ihrem Weg hinauf. Die Zweige der Haselnuss sprangen durch das offene Fenster in das Abteil hinein und gleich wieder hinaus.
Und genauso leicht und unbeschwert zogen sich die Schmerzen aus ihrem Kopf zurück – sprangen einfach aus dem Fenster und purzelten über den Bahndamm in den kleinen schnellen Fluss. Hinter dem Fluss waren die sanften Rundungen der Hügel zu sehen – ganz wie im georgischen Kachetien.
Nadeschda lehnte sich ganz weit aus dem Fenster hinaus und schickte ihren Kopfschmerzen ein Juchhei! hinterher. Sie war allein im Waggon und die Lok antwortete ihr mit einem kurzen Pfiff. Offenbar hielt sie Nadeschdas Jauchzer für ein Anfeuern und legte einen Zahn zu. Sie war merklich nervös, diese kleine tapfere Lok, die den Berg so hoch hinauffuhr. Doch es gab kein Zurück – der Weg führte noch weiter hinauf. Und so kroch die Lok, munter vor sich hin pfeifend und metallisch knarrend, in einen Tunnel, vor dem sie natürlich Angst hatte. Für einige Minuten wurde es finster. Eine ägyptische Finsternis! Nadeschda berührte mit der Hand ihre Stirn, die Wangen, die Augen und lachte aus vollem Halse. Das gleiche Gefühl grenzenloser Freiheit und unendlichen Glücks hatte sie vor zwölf Jahren, 1918, erfahren – und auch in einem Zug. Doch damals war es nicht in einem Tunnel, sondern auf einer nicht enden wollenden Brücke über die Wolga, über die der Zug donnerte. Sie war siebzehn und auf dem Weg in den Bürgerkrieg. Sie stand am Fenster, lachte, sang, rief laut – und niemand konnte sie hören: Das Donnern der Brücke übertönte alles. Und da geschah ein Wunder – sie hörte ein leises Tatka! Mein Tatotschka-Schatz! Iossif stand neben ihr. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen, hätte vor Glück gekreischt. Sie wollte seine Hände spüren. Sie waren so ungleich, seine Hände: Die Rechte kräftig und forsch, die Linke zärtlich und schüchtern. Die Rechte liebte sie mehr, doch um es zu kaschieren, küsste sie immer seine Linke. Einmal unterstellte ihr Iossif, damit wolle sie ihn demütigen, denn seine linke Hand saß auf einem Arm, der schwächer und kürzer war als der andere. Er wollte sie nie verstehen, weil er hinter jeder ihrer Handlungen, hinter jeder Regung ihres Herzens einen Hintergedanken vermutete. Allerdings tat er das bei allen, sogar bei seiner Mutter, der er nicht völlig grundlos übertriebenen Stolz vorwarf. Eine Ausnahme machte er höchstens bei Molotow und wohl bei dieser widerlichen Kreatur mit dem Krötenmaul, diesem Mingrelen namens Berija, der von Zeit zu Zeit sein Schlupfloch in Georgien verließ, um Iossif seine Aufwartung zu machen.
Doch damals, 1918, in jenem übermütigen Zug, waren sie sehr ineinander verliebt und sie versuchte mit aller Kraft, nicht an Vaters Gesicht auf dem Bahnsteig zu denken und an Mutters hysterische Flüsterworte: „Was bist du doch für eine dumme Gans! Du wirst deine Dummheit noch oft bereuen!“
Das war Mutters Lieblingsprophezeiung.
Petrograd Ende September 1917. Die Straßen wurden nicht mehr gekehrt – überall lag matschiger Dreck unter den Füßen. Als sie gerade die Frauenklinik verließ, sah sie eine Menschenmenge mit roten und schwarzen Fahnen vorbeiziehen – einen Leichenzug. Ein absurder Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Es gibt einen weiteren Tod zu beklagen, ein unschuldiges Opfer dieser wirren Zeit, von dem niemand etwas ahnt …
Erst sechzehn und schon das erste Geheimnis, die erste Lüge ihres jungen erwachsenen Lebens. Iossif verbrachte ganze Tage und Nächte in der Druckerei und im Taurischen Palast – dem Sitz der Duma. Sie trafen sich bei einer Schulfreundin, in einer großen bürgerlichen Wohnung. Die Besitzer hielten sich gerade in Finnland auf, um dort nach eigenen Worten das Ende der Unruhen abzuwarten, und vertrauten den riesigen verschlafenen Kater, der auf den Namen Arseni hörte, sowie zwei Gummibäume Nadeschdas Obhut an. Die Wohnung befand sich in der 9. Roschdestwenskaja-Straße, Nadeschdas Familie hauste in der 10. Roschdestwenskaja-Straße. Er ließ sie immer ans Telefon in der Portierloge hohlen und anschließend eilte sie zur Wohnung ihrer Schulfreundin. Doch dann war plötzlich alles vorbei: Keine Anrufe mehr und keine spätabendlichen Besuche bei ihnen zu Hause, mit denen er gerne ihre Familie überraschte. Und in seinem Zimmer, das sie so liebevoll für ihn hergerichtet hatte, lebte nun Wladimir Iljitsch Lenin. Das war im Sommer, und später, im Oktober, suchte sie sich mit einem schmalen Bändchen im roten Umschlag vor Ohrfeigen zu schützen. Das Buch war eine deutsche Ausgabe von Bert Hartes Pionier des Westens aus der Reihe Engel horns allgemeine Romanbibliothek. Fjodor kaufte diese wundervollen, in der eleganten Frakturschrift gedruckten Bücher für sie auf dem Litejny-Prospekt.
Mutter gab vor, Nadeschda dafür zu schlagen, dass sie sich den ganzen lieben Tag irgendwo herumgetrieben habe – als hätte sie einst ihre erst vierjährige Tochter nicht für gut ein Jahr an Leute abgeschoben, die sie kaum kannte, als hätte sie 1915 und 1916 ihre Kinder nicht mehrmals alleine gelassen! Und nun waren Nadeschda die Ohrfeigen egal, sie genierte sich nicht einmal vor der Haushaltshilfe Panja dafür.
Der erste Halt. Ein adrettes, solides Bahnhofsgebäude. Auf dem Giebelfeld ein Bild von Masaryk mit den gewohnten Attributen – dem Zwicker und der konischen Militärmütze. Ein kleines Mädchen im karierten Kleidchen, in der schmalen Hand ein geflochtener Korb – ein Rotkäppchen wie aus dem Bilderbuch –, das der Zugschaffner gerade auf die Waggonstufen hievte, winkte jemand.
Wem winkte sie bloß? Es war niemand zu sehen. In dem Gebüsch weiter hinten saß wohl der Wolf, der hergekommen war, um sich zu verabschieden. Nun bist du für immer mein, liebes Rotkäppchen, weil ich niemandem von dir erzählen kann – ich bin auf der Flucht. Wie einst im März 1921. Das gleiche süße Gefühl der Freiheit. Ich kann fahren, wohin ich will und wann ich will … Ich muss raus aus der Mausefalle … Einfach irgendwo unterwegs aussteigen und alles und alle vergessen …, dachte Nadeschda. Die Kinder … Wassja war kein Wunschkind gewesen … Er wurde im März 1921 geboren … In jenem März war sie ganz alleine in Moskau – ihr Bruder Pawel und seine Frau Jewgenija weilten damals, wenn sie sich richtig erinnerte, gerade in Turkestan, ihr anderer Bruder, Fjodor, lag im Krankenhaus. In der Geburtenklinik wusste niemand, wer sie in Wirklichkeit war, diese vermeintlich allein stehende junge Frau mit den pechschwarzen, glänzenden Brauen im zarten Porzellangesicht, dem langen schlanken Hals und den weichen dunklen Augen – vielleicht eine Georgierin, vielleicht eine Zigeunerin. Kurz und gut, ein exotischer Vogel aus einem fernen Land, der sich in diese gewöhnliche Geburtenklinik in der Soljanka-Straße verirrt hatte.