Erzählungen. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit
Der Besitzer eines Moskauer Nachtklubs und ein Neureicher, in seinem protzigen japanischen Geländewagen viel zu schnell unterwegs, ein Verkehrspolizist und die reizende Olessja Grunt, aber auch der bekannte Politiker N., dessen Namen wir nicht zu nennen brauchen, oder ein stadtbekannter junger Mann mit den unterschiedlichsten Fähigkeiten, sind einige der Personen, die in den Moskauer Märchen unglaubliche Abenteuer und Schicksale erleben und erleiden. Wir werden an alte Geschichten wie etwa Rotkäppchen, den fliegenden Holländer, den Turmbau zu Babel, den Froschkönig, den Flug des Ikarus oder den fliegenden Teppich erinnert. Doch hier nehmen sie völlig überraschende Wendungen und führen zu einem unerwarteten Ende. In guter russischer, an die Werke von Nikolaj Gogol erinnernder Tradition, verpackt Kabakow seine kritische Schilderung der Moskauer Gesellschaft in schaurig-schöne, unterhaltsame Geschichten von Geistern, übernatürlichen Mächten und seltsamen Begebenheiten.
264 Seiten, gebunden mit Umschlag
ISBN: 978-3-9501769-6-4
Euro 22,00
Pressestimmen
Es gibt Texte, die mit der Zeit neue Bedeutungen und Facetten gewinnen. Vor allem Märchen.
Die „Moskauer Märchen“, geschrieben Mitte der Nulljahren, waren als gesellschaftliche Satire hochgepriesen.
Es scheint jetzt, dass eine ganze Epoche von glitzerndem Glamour und „unbegrenzten Möglichkeiten“ in der Vergangenheit versunken ist. Pandemie und Klimakatastrophen zeigen erbarmungslos, dass dringend neue Wege gesucht werden müssen.
Aleksander Kabakow (1943–2020) hat die Zukunftstendenzen seit Beginn der 90er Jahren in seiner Prosa feinfühlig beschrieben. In dieser Sammlung von miteinander verbundenen Kurzgeschichten, wie in einem Spiegellabyrinth, verschmelzen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zum ewigen Kreislauf von Begierde und Scheitern.
Inna Hartwich – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow, in: Moskauer Deutsche Zeitung, Nr. 14 (237), Juli 2008, und http://www.mdz-moskau.eu 12. 09. 2008
Froschkönigin und der böse Wolf – In seinen „Moskauer Märchen“ lässt Alexander Kabakow Untote tanzen
Teils erfunden, teils aus dem Leben gegriffen stellt Kabakow die Märchenwelt auf den Kopf und räumt mit dem Mythos der geheimnisvollen russischen Seele auf.
Es war einmal ein Ruslan Iwanowitsch. Er nennt sich Abstul, lebt in Oberbrjuchanowo, liebt Whiskey und Koks, tanzt gerne in Nachtclubs und flitzt durch nächtliche Moskauer Straßen. Eines Tages trifft er in seinem japanischen Jeep auf einen Kombiwagen voller Skelette. Und weil der bekiffte und zugekokste Abstul gegen einen Stützpfeiler fährt, lebt er heute nicht mehr. „Märchen sind grausam, allerdings ist das Leben bis jetzt auch nicht besser“, heißt es in Alexander Kabakows Kurzgeschichten. Mit sarkastischer Leichtigkeit lässt der 65-Jährige korrupte Politiker mit bösen Hexen zusammentreffen, setzt einer Metro-Frau ein Rotkäppchen auf und spiegelt in seinen zwölf „Moskauer Märchen“ das heutige Leben in Russland wider: mal voller Ironie, mal sehr bemüht, menschliche Tragödien auf dem Blatt festzuhalten.
Lenin schläft. Tief und fest und lange. Das Dornröschen der Sowjetunion könnte auch weiterhin in seinen weltproletarischen Träumen versinken, wäre da nicht Eduard Wilorowitsch Dobroljubow. Der Offizier im Ruhestand – von der Ehefrau betrogen, vom Sohn in einen goldenen Käfig mit eigenem Schwimmbad und Urlaub an der Côte d’Azur eingesperrt, von den Enkeln kaum wahrgenommen – schlüpft in eine neue Rolle: Eduard Wilorowitsch gibt sich als Prinz. Alt, verbraucht und depressiv zwar, aber immerhin. Mit einem sanften Kuss will er die sowjetische Staatsleiche zum Leben erwecken. Hat bei Dornröschen schließlich auch funktioniert. An eine Hochzeit mit seiner „Prinzessin“ denkt der Ex-Offizier nicht, aber an das Leben, das er im alten Sowjetreich hatte, um so mehr. Doch bevor der großmächtige Arbeiter- und Bauernstaat wieder erblüht, liegt der Offizier tot am Boden. Herzinfarkt. Noch eine Leiche mehr.
Kabakow lässt ein ganzes Arsenal an Verstorbenen, Verunglückten, Verlorenen auffahren, stets sind sie von Menschen umgeben, doch immer einsam und allein. „Tja“, sagt der Autor. „Der Mensch ist eben böse“ und denke sowieso immer nur an „Kohle“. Und so wandeln sie durch die Gegend, all die Timofej Bolkonskis, Olessja Grunts, Politiker N.s – zwar immer im Scheinwerferlicht, von allen gekannt und geliebt, doch im Innern leer und ausgebrannt.
Der Autor, er kennt sie natürlich alle. Den „Sauhund Iwanow, diesen Träumerling, Schwätzer und nächtlichen Widergänger“, „Iljuscha Kusnezow, diesen ewigen Nörgler“ und den „Leonhard, diesen gerissenen Schlawiner“. Selbst über die „dicke Tatjana“ und ihr dünnes Portemonnaie weiß er zu berichten. So, als sei er auf ein Bier in die eigene Küche zu Besuch gekommen, hätte den geräucherten Fisch ausgepackt, auf dem Stuhl Platz genommen und losgelegt: „Ach, wisst ihr, wie war das noch mal? Ich bin mal wieder vom Thema abgekommen. Also …“ Wie ein alter Bekannter, der schon ganz Russland bereist hat und doch immer nur in Moskau zu Hause war, erscheint er vorm inneren Auge und nimmt den Leser mit auf einen Streifzug durch 50 Jahre russischer Geschichte – nicht ohne auf die kleine Portion Geografie- und Geschichtsunterricht zu verzichten. Er erzählt von Strafgefangenenlagern, von Wohnungsnot und Geldmangel mit der gleichen Leichtigkeit wie von den Exzessen der privilegierten Jugend im heutigen Moskauer Prunk, ihrem Streben nach Macht und Marmorbädern, nach Glanz und Glamour. Da bleibt ein Schmunzeln nicht aus.
Fast unmerklich bedient sich Kabakow bei Dostojewski, wirft die gogolschen toten Seelen beiseite, erschafft seine eigenen und lässt seine Ludmilla – ganz anders als Tschechow seine Irina – in Moskau ihr Glück suchen. Als Metro-Angestellte mit einem roten Käppchen auf dem blonden Haar wandert sie mit Wodka in der Puma-Tasche zur Oma Anna Semjonowna, bringt den bösen Wolf, den Penner Wolkow, um und wird reich. Einerseits „von Kopf bis Fuß erfunden“, andererseits die „reinste Wahrheit, aus verlässlichen Quellen geschöpft, nichts dazu fantasiert“ stellt Kabakow die gängigen Märchen auf den Kopf, wirbelt sie gehörig durcheinander und räumt endlich einmal mit dem Mythos der geheimnisvollen russischen Seele auf: „Das ist eine Seele, wie Seelen eben sind.“ Er lässt den unglücklichen Wachmann Igor Alexejewitsch einen Frosch küssen, den Videokünstler Tima als Ikarus in die Lüfte steigen oder den gierigen Bauunternehmer Iwan Eduardowitsch an seinem Babylon-Turm scheitern. Am Ende sind sie tot, depressiv oder auf Zypern unterwegs.
Auf 261 Seiten zeigt Kabakow eine „kleine, ganzheitliche Menschheit“, junge Damen, Ganoven, Duma-Abgeordnete, Hexen, Militärs – alle sind sie miteinander verwandt, verbandelt, befreundet. Bemüht wirkt dabei die Konstruktion der Schwestern- und Bruderschaft, zäh die immer wiederkehrenden Beschreibungen, wer wie was mit wem, die dem leichten Kabakowschen Sarkasmus in die Quere kommen. Eine etwas kleinere Märchenfamilie zaubert schließlich auch ein Lächeln auf die Lippen, und das Dornröschen Lenin träumt in seinem konstruktivistischen Mausoleum auch weiterhin von der Weltrevolution.
Mag. Barbara Schildknecht – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow, in: www.alphafrauen.org, s. Kunst und Kultur – Buchrezensionen – Gesellschaft&Soziales, 19.09.2008:
Ein sehr interessantes Buch mit der Möglichkeit der Geschichte und den Märchen Moskaus auf den Grund zu gehen.
Karlheinz Kasper – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow
01.2008, OSTEUROPA, Heft 1/08 (Print), „Bilder von dantesker Kraft…“ S. 102
Mühen des neuen Daseins
Aleksandr Kabakov (*1943) versteht sich als Vertreter jener aufmüpfigen Generation, die sein Lehrmeister Vasilij Aksёnov während der „Tauwetter“-Periode in de Roman Fahrkarte zu den Sternen dargestellt hat. Von Aksёnov hat Kabakov die beißende Ironie und die Vorliebe für eine märchenhaft-phantastische Verfremdung von Alltagsthemen geerbt, die auch seine Moskauer Märchen auszeichnen.
Aus der schaurigen Sage vom fliegenden Holländer macht er die Geschichte vom Totenauto mit dem holländischen Kennzeichen, das auf den nächtlichen Straßen Moskaus sein Unwesen treibt. Seine Opfer sind einige „neue Russen“, die glauben, ihnen gehöre die ganze Welt. Ruslan, der mit seinem Cottage an der Rublёvsker Chaussee prahlt, fährt betrunken auf dem VIP-Streifen, bis der protzige Jeep an einer Brücke zerschellt. Olesja, mit einem Finanzmann verheiratet, der es vom Komsomolsekretär zum Millionär gebracht hat, kommt nach dem Crash mit grauen Haaren und einem Trauma davon. Ein reich gewordener Politiker fährt seinen nagelneuen BMW zu Schrott und verschwindet spurlos. Ähnliches passiert einem Mann, der als Produzent von Videoclips, Restaurantbesitzer und PR-Mann für Politiker zu Geld gekommen ist. Sie alle soll der Holländer auf dem Gewissen haben. Einige Gestalten tauchen in mehreren Erzählungen auf, wechseln die Plätze, tauschen die Rollen. Unter den Bedingungen des neurussischen Kapitalismus wird der Turmbau zu Babel vorangetrieben, werden fliegende Teppiche gebraucht, zieht der ewige Jude Ahasver umher, finden Ikarus, Prometheus, Rotkäppchen, der Wolf und der Froschkönig keine Ruhe. Ein Major, der früher ein Arbeitslager geleitet hat, sucht auf dem Friedhof Rat bei toten Marschällen und Staatskünstlern, weil er Lenin in seinem Kristallsarg wach küssen will. Kabakovs Moskau ist bald ein modernes Babylon, bald ein Jahrmarkt der Eitelkeiten mit provinziellem Anstrich.
Hanns-Martin Wietek – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow
Der Büchervielfraß – www.buechervielfrass.de, www.russland.ru – 11.2007
Witz, Humor, Satire, Groteske zu schreiben, kann man nicht lernen, das muss einem Schriftsteller quasi in die Wiege gelegt worden sein. Geistvoll, hintersinnig, gehaltvoll zu sein, mit spitzer Feder reizen – nicht grob verletzen, dem Leser ein stilles Lächeln oder gar ein herzhaftes Lachen abringen und ihn doch zum Nachdenken bringen, und doch klar zu kritisieren ohne zu klagen, gar zu lamentieren – das bedarf dann aber auch großer Übung.
Ein solcher Könner ist ohne Zweifel Alexander Kabakow.
Sicher hilft dabei „die russische Seele“, die russische Mentalität. Sich selbst und auch die harten Fakten des Alltags nicht so ganz ernst zu nehmen, liegt diesem Volk im Blut, weshalb es schon in der Vergangenheit bis heute auch so viele herausragende Schriftsteller dieses Genres bei ihnen gegeben hat und gibt. Und Kabakow ist ganz sicher einer von ihnen.
Ganz besonders der, der Zeit, Umstände und das Leben in – in diesem Fall – Moskau kennt, wird seine wahre Freude an diesem Buch haben. Aber auch die „Nichtkenner“ Moskaus und der russischen Seele werden begeistert sein, was wiederum die große Kunst von Kabakow beweist.
Er verknüpft – oder besser: er lässt unmerklich ineinander gleiten – Märchen und Bericht, verknüpft die eigentlich einzelnen Episoden und kommt letztendlich zu einer romanhaften Beschreibung der Gesellschaft, die er aufs Korn nimmt; auch dieser Wurf ist meisterhaft gelungen.
Ich habe lange nicht mehr so sehr geschmunzelt.
Diese vielen Feinheiten aus einer Sprache in eine andere zu transponieren – ich vermeide bewusst das Wort „übersetzen“ –, bedarf es aber auch eines außerordentlichen Sprachgefühls; und an dieser Stelle muss man die Übersetzerin Frau Dr. Hannelore Umbreit erwähnen. Ihr Anteil an an diesem wunderbaren deutschen Buch ist sicher nicht weniger groß als der des Autors.
(…)
Einige Sätze zum Pereprava Verlag:
Es ist bewundernswert, dass in unseren Zeiten der ungehemmten Konzentration auf dem Buchmarkt (man könnte es auch viel negativer ausdrücken) ein kleiner Verlag sich zur Aufgabe gemacht hat, wertvolle Literatur der Gegenwart aus Russland uns deutschen Lesern zugänglich zu machen, ohne sich nur die Rosinen – sprich ganz großen Namen – „aus dem Kuchen zu picken“. Und das noch zu einer Zeit, in der die großen Mediengewaltigen ihre große Liebe zu Amerika zeigen und alte, längst verschwunden geglaubte Feindbilder wieder aus der Mottenkiste holen.
Das russische Wort »pereprava« (pereprava) bedeutet »(über einen Fluss) übersetzen«, im übertragenen Sinn soll es heißen „eine Brücke schlagen“ zwischen …. (in unserem Fall natürlich den russischen und deutschen Menschen).
Peter Pisa; Kurier – 27.10.2007 – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow
Holländer am Steuer
Alexander Kabakow – Die „Moskauer Märchen“ (22,50 E) lesen sich, als würden sie vorgelesen werden. Plauderton. 2005 wurden sie bei der Buchmesse in Moskau zur „Prosa des Jahres“ gekürt, und das Wiener Verlagshaus Pereprava bringt die Übersetzung von Hannelore Umbreit. In den Märchen erzählt der sibirische Autor die russische Wahrheit über Neureiche, über Politiker, über die ultramoderne Kulturszene. Und damit er die Zustände ordentlich kritisieren kann, geistern der Turm zu Babel, der Froschkönig, das Rotkäppchen durch die Geschichten.Ein Beispiel: Ein fliegendes Auto mit holländischen Kennzeichen und einem Skelett am Steuer treibt einem unguten Emporkömmling auf dem VIP-Streifen der Regierungsstraße seine Privilegien aus. (…)
Heike Geilen – zu „Moskauer Märchen“ von Alexander Kabakow
10/2007 www.sandammeer.at
Märchen sind grausam, vor allem die russischen
Was hat „Schneewittchen“ mit Lenin und was „Der fliegende Teppich“ mit russischen Abfangjägern zu tun? Die einen sind beliebte Kindermärchen, die anderen tangieren tendenziell Historie und Politik des ehemaligen Vielvölkerstaates. Bringt man allerdings Aleksander Kabakow, den russischen Schriftsteller, ins Spiel, vereinen sich diese Kontroversen in ein und derselben Geschichte.
„Moskauer Märchen“ heißt sein Erzählband, in dem er authentische Begebenheiten, die alles Andere als märchenhaft, nämlich eher erschreckend und diabolisch sind, mythologisch verwebt. Seine „Märchen“ spiegeln das heutige Leben in Russland wider.
Bei Aleksander Kabakow geht „Rotkäppchen“ nicht mehr mit einem liebevoll zusammengestellten Korb voller Leckereien zur Großmutter, sondern hier besucht eine aufstrebende Bahnwärterin eine betagte Bekannte, um deren Wohnung zu „erben“. Da entsteigt nach dem erlösenden Kuss keineswegs Schneewittchen seinem Glassarg, sondern ein alter Militär im Ruhestand erweckt Lenin auf orale Art zum Leben. Und Wassilissa, die Wunderschöne, ist bei Kabakow auch nur ein intrigantes, leichtes Mädchen, das seinen Körper für Wohlstand verkauft und dem Ende der Jugend im Wodka-Rausch nachtrauert.
Tatsächlich begegnen dem Leser bekannte Märchen und mythologische Geschichten: von Rotkäppchen bis zum Bau des Babylonischen Turms, vom Froschkönig bis zum fliegenden Teppich, vom Flug des Ikarus bis hin zu Prometheus, der einem kleinen aufrührerischen, „apfelsinenfarbig“ gekleideten Volk das Feuer bringt, als die Region wegen ihres aufmüpfigen Verhaltens kurzerhand vom Stromnetz genommen wurde. Und wenn einer meint, man müsse nur die glitschige Haut der in einen Laubfrosch verwandelten grünen Zarentochter küssen, und schon könnte man mit ihr den Thron besteigen, tja, der landet gleich in der geschlossenen Anstalt, denn niemand wird heutzutage solch eine Philosophie verstehen.
Aleksander Kabakow hat die guten alten Märchen und Mythen aus aller Welt umgeschrieben. Er hat sie modernisiert, ihnen eine ganz eigene Tonart verpasst und sie nach Moskau verlegt. Doch das Gute siegt hier kaum noch über das Böse.
Erzähler ist der Autor selbst. Er berichtet dem Leser von Personen auf ihrem Karriereweg vom ehemaligen Komsomol-Sekretär zum Millionär, er spricht über Korruption und ausgeprägten Antisemitismus im kommunistischen Russland. Alle seine Geschichten offenbaren eine äußerst präzise Beobachtungsgabe, obwohl er nach seinen „märchenhaften“ Protagonisten nie lange suchen musste, erzählte der Autor in einem Interview. Es sind Menschen, von denen er in seiner Heimat tagtäglich umgeben ist, und auch die Handlungen sind der Realität entnommen.
Mit einer gehörigen Portion Humor und Ironie unterlegt berichtet Kabakow mit sarkastischer Leichtigkeit über grausame Kindheitserlebnisse, Alkoholismus, Armut, Brutalität und spart auch weder die Kriegsereignisse in Tschetschenien noch das leichte Leben der neuen, geltungsbedürftigen russischen „Elite“ aus. Nicht nur Dostojewski, sondern auch Aleksander Kabakow schreibt über die Russen Sachen (…), die lieber kein Mensch wissen sollte“.
Herausgekommen ist eine Enzyklopädie des modernen russischen Lebens, mit all seinen typischen Beamten, skrupellosen Geschäftsleuten, Ganoven, leichten Mädchen, Politikern und anderen zweifelhaften, aber sehr gegenwärtigen Persönlichkeiten: auf der einen Seite sehr realistisch, auf der anderen stilistisch schrill überzeichnet und mit einer zum Teil schwermütigen Intonation. Diese Kontroverse und die großartige Kreuzung des fantastischen Genres mit der brutalen Realität seines Landes offerieren einen schaurig-schönen, unterhaltsamen, politisch brisanten und kritischen Streifzug durch 50 Jahre russische Geschichte.
Alle zwölf Geschichten und ihre „Helden“ sind untereinander vielschichtig verwoben und miteinander verknüpft. Vergangenheit und Gegenwart fließen ständig ineinander. Durch das permanente Überschreiten der Grenze zwischen Metapher und Realität werden beim Leser literarische Bilder und Visionen von beängstigender Realität und archetypischer Zeitlosigkeit erzeugt.
Und um noch einmal auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen, was die mythischen Gestalten mit dem russischen Alltag gemein haben, kann als mögliche Antwort der Erzähler in der Geschichte „Rotkäppi und der Grauwolf“ herangezogen werden: „In den Märchen hat das Gute (…) immer Fäuste, und zwar eisenharte, von denen das Böse nur träumen kann. Märchen sind allesamt grausam. Allerdings ist das Leben bis jetzt auch nicht besser“, zumindest das in Russland nicht. Ein entscheidender Unterschied ist dennoch zu verzeichnen: die einstmals bekannten, liebenswert-hinreißenden Figuren entfalten sich in den „Moskauer Märchen“ zu tragischen „menschlichen Komödien“, die eher traurig aus dem Text herausschauen.
Den immer mit einem Schuss Ironie unterlegten russischen Originaltext hat Hannelore Umbreit prägnant und imposant ins Deutsche übertragen.
Leseprobe
Das Babylon-Projekt
Irgendeine Präfektur ersann die Errichtung eines Hauses in der Petrow-Straße, Flurstück Nr. 3. Alles normal: Punktbebauung, monolithisch, ohne Innenausbau, Preis pro Quadratmeter: 1250 VE, also Verrechnungseinheiten, freie Grundrissaufteilung, Tiefgarage mit einer begrenzten Anzahl von Stellplätzen für jeweils 12 000 VE, großzügige Lobbys, anständige Nachbarn, Rund-um-die-Uhr-Bewachung des angrenzenden Geländes. Zeichnungen, die das elitäre Wohnhaus vor einem Wolkenhimmel zeigten, wurden massenhaft in Reklamebeilagen und Illustrierten plaziert. Außerdem erschienen auf den Straßen etliche Spruchbänder mit der – bei näherer Betrachtung deprimierenden – Aufschrift „Werden auch sie immobil!“, bei der natürlich entgegen den guten alten Orthografieregeln das „s“ klein geschrieben war, so als handele es sich nicht um eine persönliche Anrede. Radiosender flöteten eine Kontakttelefonnummer, die der besseren Einprägsamkeit halber mit drei Sechsen begann. Kurzum, die Sache kam in Fahrt.
Aber wie denn in Fahrt? Wo doch die zukünftigen Wohnungen noch auf unterschiedlicher Höhe in der Luft hingen und vollkommen unsichtbar waren, wo man noch nicht einmal begonnen hatte, die Baugrube auszuheben in dem verdichteten Sand, mit dem hier irgendwann einmal das Gelände aufgefüllt worden war.
Der Verkauf lief jedoch sofort gut an, obwohl es einige Enttäuschungen gab, als die Käufer zur Kenntnis nehmen mussten, dass VE nicht die üblichen US-Dollar meinte, sondern Euro. Doch unter dem Druck der wild entschlossenen Schlange von Interessenten waren die Vertreter der schnell wachsenden Mittelschicht bereit einzulenken, als die Bevollmächtigten des Bauherrn plausibel argumentierten, es könne sich gar nicht um Dollar handeln, weil sonst eben USD, $ oder wenigstens „am. Doll.“ dagestanden hätte. Und die Dollarbasis für die nämlichen VE sei hoffnungslos veraltet auf Grund des ständig wachsenden Erdölpreises, der Konsolidierung der Europäischen Union und einer ganzen Reihe anderer internationaler Faktoren, von dem endlich stabiler werdenden russischen Rubel ganz zu schweigen. Okay, wenn es sein muss, dann eben Euro, diese fünfzehn Prozent mehr ruinieren uns nicht, sagte sich die Mittelklasse und schleppte auf der Stelle heran, was nach dem offiziellen Wechselkurs am Stichtag für die entsprechenden Quadratmeter fällig war. Natürlich bemühte man sich nicht selbst, sondern ließ den Fahrer schleppen, wozu sollte sich die Mittelklasse mit schweren Taschen abplagen?! Im Gegenzug erfolgte die unverzügliche Aushändigung einer Bescheinigung über den Erwerb von Wohneigentum im Umfang von … Quadratmetern im … Stockwerk des Hauses Nr. … in der Straße … Und keinem einzigen Käufer kamen angesichts der Luftigkeit des Kaufs und der sandigen Basis der ganzen Unternehmung die sattsam bekannten Weisheiten der Geschäftspraxis in den Sinn, weil die Mittelklasse glaubt, auf diese uralten Idiome pfeifen zu können.
Was den Standort angeht, so war er eigentlich sehr günstig: die Metro nicht weit, buchstäblich zehn Minuten mit dem Linientaxi. Zwar brauchte keiner der Käufer diese Metro wirklich, aber immerhin. Und die Anfahrt mit dem Auto – superbequem, eine breite Straße mit je zwei Spuren, es fehlten nur noch etwa fünfhundert Meter Asphaltierung bis zum Haus. Und erst das viele Grün ringsum. Ganz besonders üppig, geradezu wie im Dschungel, wucherte es dort, wo die frühere Sandgrube lag, weil die später zu einer Müllhalde umfunktioniert und dann mit einer Schicht Mutterboden abgedeckt worden war, und jetzt hieß das Ganze „Grünanlage der Opfer“, denn den ehemaligen Friedhof hatte man auch gleich mit umgepflügt. Und die Luft! So eine saubere Luft gab es nirgendwo in der Stadt, aus den Wohnungen ab dem vierzehnten Stock war sogar der Fluss zu sehen! Selbst den Stadtteil Unterbrjuchanowo, der hinter dem Fluss lag, würde man bei gutem Wetter sehen können, mitsamt seiner Gewerbegebiete und Industrieanlagen, so durchsichtig war die Luft. Und erst die Infrastruktur! Nur einen Katzensprung entfernt, gleich hinter der Ring-Autobahn, gab es einen Kaufhauskomplex, neben der Metro noch einen, in Brjuchanowo einen dritten, und in jedem ein Dolby-Stereo-Kino, ein japanisches Restaurant mit chinesischer Küche, eine Bowling Bar sowie ein Fitness Center, dazu unweit der Metrostation eine Klinik, die Liposuktionen vornahm, man brauchte nirgendwohin zu fahren, konnte einfach hineinspazieren und sich ruckzuck verschönern lassen … Nur fehlte leider, leider ein Casino, das war natürlich ein Nachteil. Zwar gab es eines in Brjuchanowo, aber das wurde nur von Einheimischen frequentiert. Andererseits ging man ja nicht jeden Tag ins Casino, und zwei- oder dreimal wöchentlich konnte man schließlich in die Innenstadt fahren.
Was dagegen die eigentliche Adresse des Hauses anging, so ließ sie in der Tat einiges zu wünschen übrig. Lag darin doch eine das Gehör wie den Verstand irritierende Unbestimmtheit. Petrow-Straße, schön und gut, aber was denn für ein Petrow? Unter der alten Macht galt die Lesart, dieser Petrow sei ein Bürgerkriegsheld gewesen, Armeekommandeur und Kavalleriestratege, natürlich auf Seiten der Roten. Deshalb beschloss die neue Macht, kaum dass sie sich jäh auf die Seite der historischen Gerechtigkeit geschlagen hatte, der Petrow-Straße ihren historischen Namen zurückzugeben, sie wieder so zu nennen wie zur Zeit der noch älteren Macht, als nämlich Armeekommandeur Petrow noch keinen revolutionären Drang in sich verspürt hatte, sondern ein einfacher Kosakenrittmeister gewesen war. Allerdings mit überdurchschnittlichem Geschick im Voltigieren und im „Rutenspalten“, jenem urtümlichen Pferdesport, bei dem der Reiter im gestreckten Galopp die aufgestellten Attrappen so sauber mit dem Säbel zerhaut, dass sie nicht einmal auseinander fallen.
Bald stießen die Mitglieder der Umbenennungskommission auf ein prinzipielles Hindernis. Es stellte sich nämlich heraus, dass es seinerzeit an dieser Stelle überhaupt keine Straße gab. Die einzige erhaltene Fotografie zeigte vielmehr, dass hier in dokumentierter Unordnung die schiefen Holzhütten des Dorfes Oberbrjuchanowo gestanden hatten. Seine Bewohner waren Fuhrleute, verkauften in den nahe gelegenen Vororten Eier und Ziegenmilch und brachten die meiste Zeit damit zu, sich – so lange das Eis des Flusses auch nur halbwegs trug – mit den Leuten aus Unterbrjuchanowo erbitterte Schlägereien zu liefern. Oft, besonders, wenn Ostern spät fiel, geschah am Ende dieses Getümmels, was schon in der Schlacht auf dem Peipussee 1242 geschehen war: Das Eis brach unter den Raufenden. Doch während Fürst Alexander Newski seinerzeit dank dieses Umstands die deutschen Ritter vernichtend schlagen konnte, errang im Bruderkrieg der beiden Brjuchanowos keine Seite den russischen Sieg.
Wie bereits flüchtig erwähnt, mauserte sich Unterbrjuchanowo in der Folgezeit zu einem Trabantenstädtchen mit zahlreichen fünf- und neungeschossigen Wohnhäusern stereotyper Bauart und spartanischer Ausstattung, aber auch mit Ladehöfen und Kühltürmen. Von Oberbrjuchanowo blieb überhaupt nichts übrig außer der Sandgrube und dem Friedhof für die Opfer verschiedenster Ereignisse, und später dann wurde dort, wo Grube und Friedhof gewesen waren, besagte Straße angelegt und nach dem so gut wie unbekannten Bürgerkriegshelden Petrow benannt. Ihre wenigen, einzeln stehenden Hochhäuser glichen einem lückenhaften Gebiss vor der stomatologischen Auffüllung.
Aber das nur nebenbei, die Hauptsache ist vielmehr, dass es keinen Namen gab, den man dieser Petrow-Straße hätte zurückgeben können. Ein freidenkerischer Heimatkundler, der als Vertreter der Öffentlichkeit in der toponymischen Kommission saß, kam auf die Idee, dem „Petrow“ einfach noch ein „Wodkin“ anzuhängen, was jedoch stante pede abgelehnt wurde, da der Maler Kusma Petrow-Wodkin in keinerlei Beziehung zu der betreffenden Straße stand und der Appendix zudem bei den einfachen Bürgern unerwünschte Assoziationen auslösen könnte. Tatsächlich, der Umbenennungsvorschlag fand zwar kein Gehör, ließ aber neben der Metrostation zwei konkurrierende Etablissements entstehen – die Tagesbar „Petrow-Wodkin“ und die Schaschlik-Stube „Rotes Ross“ mit ihren Spielautomaten. Als beide später im Zuge der Bekämpfung nicht genehmigter Handels- und Gewerbeeinrichtungen abgerissen wurden, blieben dort, wo die gläsernen Pavillons mit den Eisenkanten gestanden hatten, zwei schmutzige Quadrate rohen Erdbodens zurück. Und ein paar Monate darauf wuchs hier das Handelszentrum Petrov City empor, wieder mit viel Glas, aber die Ecken und Kanten bereits in kapitales Aluminium gefasst.
In jenen legendären Zeiten des ideologischen Wandels fand sich ein weiterer Vertreter der Öffentlichkeit, der, obzwar nicht Mitglied der Umbenennungskommission, direkt an den zuständigen Amtsleiter herantrat und in einem Schreiben den Vorschlag unterbreitete, die Straße einfach Geburtsstraße zu nennen, zu Ehren der Kirche Mariä Geburt, die gerade in Windeseile und fast unbemerkt auf einer früher mit rostigem Eisenmetallschrott übersäten Ödfläche entstanden war. Der Entscheidungsträger schien sich für den Vorschlag erwärmen zu können, der Name klang gut, das mussten selbst die wenigen verbliebenen Atheisten einräumen. Es sollen sogar schon Emailleschilder mit der Aufschrift „Geburtsstraße“ bestellt worden sein. Doch dann wurde nichts aus der Sache. Das Warum entzieht sich jeder vernünftigen Erklärung, es lässt sich – besonders, wenn man die nachfolgenden Ereignisse bedenkt – nur eines vermuten: Gott hat es nicht gewollt.
Die ganze Umbenennungsgeschichte endete damit, dass ein Mitglied der Kommission (kurz vor deren Auflösung) ein erstaunliches Sprachgefühl und einen wachen Erfindungsgeist offenbarte, obwohl dieser Mann in dem geisteswissenschaftlichen Gremium quasi artfremd war, denn er vertrat die Interessen der lokalen Emaille- und Blechindustrie. „Genossen“, erklärte der Blechmann und verstummte für einen Augenblick, offenbar um Kraft zu sammeln für die notwendige Korrektur, brachte aber das „meine Herren“ nicht über die Lippen und behalf sich mit einem „liebe Freunde“: „Liebe Freunde, wir brauchen gar nichts zu ändern. Wer von uns erinnert sich nicht an Puschkins berühmtes Poem ‚Poltawa’, in dem er ein Hohelied auf Zar Peter singt? Die wunderbar poetische Verszeile von den ‚Vögeln aus Peters Nest’ gibt uns einen Gedanken ein: Wenn es ‚Peters Nest’ sein kann, warum dann nicht ‚Peters Straße’? Zum einen ehren wir damit den großen Zaren und knüpfen, so meine ich, das beinahe gerissene Band der Geschichte Russlands wieder zusammen. Und wenn wir zum anderen auch noch des großen Reformators gedenken, so bedarf das nach meinem Dafürhalten erst recht keiner weiteren Begründung. Wie seht ihr das, Genossen und Freunde?“
Was soll man da sagen? Man kann nur staunen, was für gebildete und unorthodox denkende Menschen einem in Russland buchstäblich auf Schritt und Tritt über den Weg laufen, darunter auch in einer rein äußerlich so unauffälligen Sphäre wie der Emaille- und Blechindustrie. Das hatte er sauber hingekriegt, der schlaue Fuchs! Eine grundlegende Umbenennung war nicht nötig, aber das Schlitzohr konnte alle überzeugen, dass nun – natürlich in seiner Fabrik zu fertigende – Blechschilder her mussten, auf denen der neuen Sinngebung und dem Geist der russischen Sprache gemäß statt „Petrow-Straße“ „Petersstraße“ prangen würde. Ein halbes Jahr später wurden die nagelneuen, noch kein bisschen abgeplatzten Schilder tatsächlich an den Häusern angebracht.
Natürlich ging es nicht ohne eine ärgerliche Kleinigkeit ab: In sämtlichen offiziellen Dokumenten, darunter auch denen finanztechnischer Natur, schrieben alle nach wie vor Petrow-Straße, und dabei blieb es dann auch. Aber wir wollen nicht kleinlich sein, mit so etwas kann man leben, das historische Gedächtnis des Volkes nimmt dadurch keinen Schaden.
Und noch ein Detail. Wie sich herausstellte, war der Blechhersteller dann doch ein studierter, sogar ein promovierter Mann, besaß einen Doktortitel –
der Philologie oder der Geschichtswissenschaften, am Ende vielleicht gar der Philosophie. Das ist ein Ding, was?! Der überraschende Beginn der ökonomischen Reformen hatte ihn zeitweilig im Blechgeschäft Zuflucht suchen lassen, doch sobald sich das Leben normalisierte, stieg er blitzartig auf, machte Karriere als Kunsthändler (moderne Kunst), Reklame-Fachmann und politischer Berater. Allerdings ist er aus unserem Blickfeld verschwunden und wird deshalb im Folgenden keine Rolle mehr spielen.
Um so mehr, als wir uns dringend wieder der Baustelle zuwenden müssen. Jeder, der sich ihr im Auto näherte oder zu Fuß von der Metrostation kam, sah bereits von weitem, noch mit dem zähen, glitschigen Schlamm der letzten nicht asphaltierten fünfhundert Meter kämpfend, eine überdimensionale Tafel, die an dem akkuraten, aber abgrundhässlichen Zaun aus Profilbetonplatten hing. Die farbige Darstellung des zukünftigen Hauses unterschied sich wesentlich von dem, was in den Zeitungen zu sehen gewesen war. Wenn wir jetzt versuchen, den visuellen Eindruck in Worten zu beschreiben, sind wir uns durchaus der prinzipiellen Unmöglichkeit bewusst, die Formensprache einer Kunst in die einer anderen zu überführen.
Vor allem überraschte die Form des Hauses: keiner der oben spitz zulaufenden Bleistifte, an die sich die Städter bereits gewöhnt hatten, sondern ein runder Turm, dessen breiter unterer Teil nach oben sachte schmaler wurde. Die Außenmauern stießen in den dunkelblauen Himmel vor, wo sie die Wolken auseinander trieben, allmählich in der geballten Schwärze der oberen Luftschichten ihre Kontur verloren und schließlich ganz verschwanden. Diese Mauern waren ebenfalls dunkel, weder aus gelben oder wenigstens roten Ziegelsteinen, noch mit einem leuchtenden Anstrich aus bleichfesten finnischen Farben auf hochwertigem Putz. Einfach dunkler Stein. Auf seinem schweren, amorphen Fundament, das der Künstler zur Verdeutlichung der Dimensionen mit dem Gekräusel winziger Waldungen sowie sattgrün hingeklecksten Feldern und Fluren umgeben hatte, erhob sich das Haus als riesige Spirale. Auf der von Etage zu Etage umlaufenden Galerie bewegten sich mikroskopisch kleine Menschen, einige schauten nach unten, auf die Erde, die sie zurückgelassen hatten, andere blickten mit in den Nacken gelegtem Kopf hinauf, in den Himmel, der noch unerreichbar war.
Beim Anblick des Bildes bekam man richtig eine Gänsehaut, so gigantisch ragte der Turm auf, so finster dräute der Himmel, so unbehaust lag die Erde, so undurchdringlich dicht waren die Wäldchen, so öde die Felder, so kläglich die Menschen. Ach, die Menschen, was würde da auf sie zukommen?!
Seitlich neben dem Bauwerk prangte in purpurroter Schrift quer über der Himmelsschwärze und dem Wolkendunkel ein einziges Wort: BABYLON. Darunter stand die nämliche Telefonnummer mit drei feuerfarbigen Sechsen. Und ganz unten fand sich noch – in Schreibbuchstaben und tiefrot, wie mit einem blutenden Finger hingeschmiert – ein Slogan. „Reiche zum Himmel empor!“, konnte man lesen. Was für ein Kokolores da manchmal produziert wird, bloß um der Reklame willen! Über die Folgen macht sich dann keiner Gedanken.
Eines muss man dem Gemälde lassen: Es erregte allgemeine Aufmerksamkeit, man konnte einfach nicht gleichgültig daran vorübergehen oder vorbeifahren, viele notierten sich die verführerische Telefonnummer oder versuchten sie im Kopf zu behalten. Die Leute überlegten: Wohnraum wird immer teurer, vielleicht wäre es gar keine schlechte Investition, sein Geld in ein paar Quadratmeter zu stecken und sich in einem oder anderthalb Jahren dort oben wiederzufinden, auf der Galerie, unter denen, die den Himmel erreicht haben, unter den Kühnen und Stolzen, den Erfolgreichen und Starken.
Hinter dem Bauzaun wälzte sich schwerfällig wie eine Riesenechse in einem Hollywood-Film ein Abraumbagger hin und her, waren Tadschiken bienenfleißig mit Ausschachtungsarbeiten beschäftigt. Sie schippten gebeugt, bogen den Rücken nur selten gerade und sahen von oben so winzig aus wie die gemalten Menschen, die auf der ebenfalls gemalten Galerie in den Himmel stiegen. Doch bei näherer Betrachtung erwiesen sich die Tiefbauarbeiter als ganz normale Tadschiken – dunkelgesichtig, schmächtig, mager. Sie waren erstaunlich sauber für ihre schwere, schmutzige Arbeit und die Lebensumstände in dem ehemaligen Pionier-Ferienlager, von wo aus sie jeden Tag in Kleinbussen mit zugehängten Fenstern – wie Angehörige einer Spezialeinheit der Schnellen Eingreiftruppen – zu ihrer zwölfstündigen Schicht gekarrt wurden.
Neben den Tadschiken verlegten sehr stille, abgerissene moldawische Brigaden Versorgungsleitungen, begannen hier und da bereits Teile des Fundaments zu gießen. Solide ukrainische Monteure hantierten mit japanischer Technik, ein Trupp von Armeniern, die ganz unter sich blieben, asphaltierte ohne sonderliche Eile die Zufahrtsstraße … Und über der Baustelle hing, niemals abschwellend, ein so dichtes Stimmengewirr, dass selbst der Monsterbagger mit seinem höllischen Dröhnen und Scheppern nicht gänzlich dagegen ankam, und immer wieder drang durch diesen Heidenlärm – mit unterschiedlichem Akzent gesprochen – ein höfliches „Arschloch“ oder andere unersetzliche Wörter aus jenem Alltagsvokabular, das uns alle als Einziges noch eint in der angenehmen, lange währenden Erinnerung an die unwiederbringlich verlorene Heimat Sowjetunion.
Mindestens ein Mal pro Woche glitt das Eisentor im Betonzaun zur Seite und gab eine Lücke frei. Dann erschien zunächst ein Wachmann in einem wattierten Wintertarnanzug, und kurz darauf rollten, gewaltige Schlammlawinen aufspritzend und durch die tiefen Schlaglöcher schaukelnd, zwei Automobile herein, wie man sie selbst in Moskau nicht oft zu sehen bekommt: ein in diesem besonders britischen Königsblau gehaltener Bentley und ein martialischer Hummer H2, den man durch perlgraue Lackierung und den Einbau von Ledersitzen an seine relativ zivile Verwendung angepasst hatte.
Die Wagenkolonne bedeutete, dass Iwan Eduardowitsch Dobroljubow, der Direktor der OAG Babylon, in Begleitung seiner Bodyguards wieder einmal zu
einer Baustellenbesichtigung eingetroffen war. Dieser Herr Dobroljubow mit seinen unermüdlichen geschäftlichen Aktivitäten spielt die Hauptrolle in unserer Geschichte, weshalb wir vorab ein paar Worte über ihn verlieren müssen.
Seinen Familiennamen hatte Wanja nicht etwa geerbt von dem großen Demokraten, Literaturkritiker und Publizisten Nikolai Dobroljubow, dessen fransigen Kapitänsbart alle gebildeten Leute in Russland vor Augen haben. Nein, Eduard Wilorowitsch Dobroljubow, Wanjas Vater, war Offizier der Truppen des Inneren, vormals bekannt unter der Bezeichnung Truppen des Ministeriums für Staatssicherheit, in denen er kalendarisch fünfundzwanzig, rententechnisch – da in diesen Organen einige Jährchen doppelt zählen – sogar mehr als dreißig Jahre lang Dienst getan hatte, zuletzt im Majorsrang als Kommandant der Außenstelle eines Gefangenenlagers. Und Wilor (gebildet aus den Anfangsbuchstaben von Wladimir Iljitsch Lenin + Oktober-Revolution) Mefodijewitsch Dobroljubow wiederum stammte ab von Mefodi Dobroljubow, einem Bauern aus dem Gouvernement Perm, der der Partei der Bolschewisten beigetreten war, es schließlich zum Sekretär des Exekutivkomitees eines Kreises gebracht hatte, im Alter von 34 Jahren der Säuberungswelle des Jahres 1937 zum Opfer gefallen und 1958 rehabilitiert worden war. Das Dorf, in dem Nikolai Dobroljubow zur Welt kam (den Vornamen Wilor nahm er mit Bedacht erst später an), wurde überhaupt nur von Dobroljubows bewohnt.
Aber wir schweifen schon wieder ab zu solchen Nebensächlichkeiten wie Namen, wo es doch viel Wesentlicheres zu berichten gibt. Seine ordentliche Herkunft hinderte Iwan Dobroljubow nicht daran, bereits in frühester Jugend (noch vor dem Komsomol-Alter, also als Pionier) die persönliche Bereicherung über alles zu stellen und auf die schiefe Bahn zu geraten. In der Stadt Joschkar-Ola, wo sich die Familie nach der Entlassung des Vaters aus dem aktiven Dienst niedergelassen hatte, erlangte Wanja bei seinen Mitschülern und der Miliz schnell Berühmtheit, weil er gewieft mit Kaugummi dealte. Wie er an das „Kaugi“ kam, blieb sein Geheimnis. Etwas älter geworden, mauserte sich Wanja überraschend zum Komsomol-Aktivisten, wurde ehrenamtlicher Instrukteur des Stadtkomitees der Jugendorganisation und stellte mit viel Elan studentische Baubrigaden auf die Beine, obwohl er selbst nicht lange Student gewesen war, ja nicht einmal als Soldat dienen musste, weil das griechisch-römische Ringen, in dem er es sogar zu Meisterehren brachte, seine Gesundheit allzu sehr geschwächt hatte. Danach … ja, danach kam mancherlei. Sogar ein Jahr Bewährung in den Anfangszeiten der Perestroika, weil Iwan den Beschlüssen der Partei ein wenig vorgegriffen und seine private Makler- und Vermittlungskooperative „Junost“ zu groß aufgezogen hatte. Dann folgte die Übersiedlung nach Moskau, die schwierige Zeit des Einstiegs in den Markt der Computer, die der frischgebackene Unternehmer mehrere Male eigenhändig in das gerade auf den Kurs der Modernisierung eingeschwenkte Russland importierte: Ganz vorn im Laster, neben dem Fahrer, die Kalaschnikow auf den Knien, spähte er angestrengt in die Finsternis der wild-verwegenen polnischen Straßen … Ja, schwer war die Geburt des heutigen zivilisierten Geschäftslebens im Lande. Nehmen wir nur diese OAG Babylon, gegründet und ununterbrochen geleitet von besagtem Iwan Dobroljubow. Heute ist das eine absolut offene Aktiengesellschaft, die bekanntlich Elitewohnungen baut für gutbetuchte Moskauer, deren Zahl nicht täglich, sondern stündlich wächst. Die Gesellschaft arbeitet auf das Engste mit der Stadtregierung zusammen, so dass nicht einmal der hirnloseste Schutzgelderpresser auf die Idee käme, ein Unternehmen mit einem so verlässlichen „Dach“ angehen zu wollen. Iwan Eduardowitsch Dobroljubow ist nicht nur bekannt als Präsident der Aktiengesellschaft und Großunternehmer, sondern auch als großzügiger Mäzen, der zahlreiche Projekte im Bereich Kunst und Kultur unterstützt. So gründete er beispielsweise die gemeinnützige Stiftung „Krassota“, die erhebliche Mittel bereitstellt, um die Hauptstadt mit neuen Denkmälern zu schmücken. Ohne „Krassota“ gäbe es weder das bekannte dreihundert Meter hohe Denkmal Iwans des Schrecklichen, dessen hochgereckter Knüttel seinen Schatten über die Weiten des Komsomol-Prospekts wirft, noch die vielfigurige Komposition „Der Sieg der russischen Flotte bei Zusima“, die sich aus den Wassern des Flusses Jausa erhebt, und erst recht nicht die Büste Alexander Puschkins auf einer Säule, die selbst die Petersburger Alexandersäule überragt (wie es sich der Dichter wünschte) und endlich die moralisch absolut veraltete und unsäglich von Taubendreck verschandelte alte Skulptur an der Prachtstraße Twerskaja ersetzt hat.
Nun war die Zeit gekommen für die Erfüllung eines lang gehegten Traums, den Iwan Dobroljubow bereits seit seiner Kindheit in sich trug. Er wollte das höchste Haus der Welt bauen.
Damals, in Joschkar-Ola, hatte der kleine Wanja zufällig in der Zeitschrift „Smena“ gelesen, dass es in New York Häuser gab, die die Menschen mit ihren einhundert und mehr Etagen förmlich niederdrückten, und dass in dem neokolonialen Stadtstaat Singapur und an anderen weit vom heimatlichen Joschkar-Ola entfernten Orten der Welt sogar noch höhere Gebäude errichtet wurden. Lange betrachtete er die ein wenig unscharfen Fotos der Wolkenkratzer, konnte den Blick nicht losreißen vom feinmaschigen Netz der Fenster und versuchte sich vorzustellen, dass hinter jedem der winzigen Quadrate ein Zimmer lag, vielleicht sogar ein großes, womöglich viel größer als die achtzehn Quadratmeter ihrer Stube in Joschkar-Ola, und in diesem Zimmer stand sehr wahrscheinlich gerade ein Mensch am Fenster und schaute durch die Scheibe in die Leere des Himmels … Wanja kam der Gedanke, dass einen nichts bedrücken konnte, wenn man im Himmel wohnte, er legte die Zeitschrift aus der Hand, ging zum Fenster und schob die Tüllgardine beiseite. Von der Höhe des dritten Stockwerks (und die Decken waren ordentlich hoch, zwei Meter siebzig) fiel sein Blick hinaus in den März: Im öden Hof grauer Schnee, durchquert von kurzen Trampelpfaden zum Lebensmittelgeschäft und zur Bushaltestelle, neben den Schuppen unzählige braune, an den Rändern auseinander fließende Häufchen, zurückgelassen von Menschen und Hunden, und fast kein Himmel. Wanja presste das Gesicht gegen das kalte, feuchte Glas, das sofort matt beschlug, verrenkte sich beinahe den Hals, um nach oben zu schauen, und konnte doch nur ein kleines Fetzchen Himmel erhaschen, nur einen schmalen grauen Streifen über dem Dach des gegenüberliegenden Hauses, das ebenfalls vier Stockwerke und zwei Aufgänge besaß und an dessen Außenmauern entlang ein dickes Gasrohr über den höckerigen Bürgersteig lief. Es war mit hellblauer Ölfarbe gestrichen, und wo das Blau nicht gereicht hatte, dunkelte Grün. Schnell trat Wanja vom Fenster zurück und ging los, um sich seinen Geschäften zu widmen: dem Verkauf von Kaugi in der Schulgarderobe.
Die Jahre vergingen. Gerade hatte Iwan Dobroljubow seine Frau Oksana, die Söhne Mefodi und Nikolai sowie die alten Eltern zum Winterurlaub in die österreichischen Alpen geschickt, denen Oksana immer noch etwas abgewinnen konnte. Er langweilte sich, so allein mit den Bediensteten in dem großen Haus. Übrigens, man sieht dieses Haus ganz gut von der Abzweigung aus, wo es zu den Hängen von Nikolina Gora hinaufgeht, viele schauen hin, bestimmt haben auch Sie es bemerkt, so eine gelbe Villa, im Stil eines russischen Gutshauses. Egal, weiter im Text. Ein paar Querelen mit Krediten und die Notwendigkeit seiner persönlichen Präsenz bei den Verhandlungen der beteiligten Seiten hatten den bekannten Unternehmer daran gehindert, sich der Familie anzuschließen. Tagsüber musste er die Situation entschärfen, Frieden stiften, Kampfhähne trennen. Abends vertrieb er sich die einsame Zeit in irgendeinem annehmbaren Etablissement, wo man – ohne den Leibwächtern allzu viel Mühe zu bereiten – ruhig unter seinesgleichen sein, Billard spielen, ein gutes Bier – irisches mochte Iwan in letzter Zeit am liebsten – trinken und sogar ordentlich zu Abend essen konnte, so wie es sich gehört, mit einem guten Wein, bei dessen Auswahl einen dieser, wie hieß er doch gleich, ach ja: Sommelier taktvoll beriet.
So beehrte Iwan Dobroljubow auch den Club seines engen Freundes Woloditschka Trofimer, der nicht nur ein populärer Parlamentarier war, sondern auch als Stilikone der modernen Jugend galt. Bei Woloditschka hatte sich an diesem Abend eine prächtige Gesellschaft zusammengefunden. Am Nachbartisch saß die stadtbekannte Schönheit Olessja Grunt, die im letzten halben Jahr überall in Begleitung von Senja Beloglinski (Mangangewinnung) auftauchte, es gab sogar Fotos der beiden in einigen Zeitschriften. Etwas weiter entfernt hatte – man höre und staune – Pjotr Pawlowitsch („Westinvest“) Platz genommen und speiste diskret in Gesellschaft seiner Mitarbeiter. In einer Ecke relaxte mit einer Zigarre im Mund Tima Bolkonski, der berühmte Filmregisseur der neuen Generation („Drugan“ und „Drugan kehrt zurück“), Produzent von Videoclips, politischer Berater, Motorradfan und Sohn eines Großmeisters der sowjetischen Kultur. Timas kahlgeschorener Schädel glänzte mit seinen Ohrringen um die Wette, dunkel stach das Spitzbärtchen hervor. Zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt, hatte Tima Moskau noch nicht verlassen, war noch nicht verschwunden in die Republik Eire oder gar nach Quebec, war noch nicht unter die Feueranbeter oder die Zen-Buddhisten gegangen.
Ganz in Dobroljubows Nähe saß, vollkommen unauffällig, einfach als Gleicher unter den Ersten, der durchaus nicht unbekannte N. (Innenministerium, Finanzministerium, wieder Innenministerium, Duma-Ausschuss für Vergünstigungen und Privilegien). An diesem Abend war er noch am Leben, und nichts deutete auf das bevorstehende Unheil hin. Auch Ruslan, er hieß wohl Abstulchanow, aber alle nannten ihn einfach Abstul, also, der war ebenfalls da, ein Freund hatte ihn und Dobroljubow flüchtig miteinander bekannt gemacht, gut möglich, dass sich nützliche Geschäftskontakte ergeben konnten, vielleicht in Sachen Beschaffung auswärtiger Arbeitskräfte, aber es sollte nichts daraus werden, denn an diesem Abend hatte Abstul bereits zu viel getrunken oder gekifft, und kurz darauf soll er umgekommen sein, wie man hört. Was ja zu erwarten gewesen war.
Auch die zahlreichen weiteren Gäste kannte Dobroljubow ausnahmslos.
Man saß da, aß und trank, plauderte angenehm.
Je weiter die Zeit auf Mitternacht zu rückte, je mehr sich nicht nur Iwans – vom Sommelier empfohlene – Flasche Bordeaux, sondern auch die Flaschen der Anderen leerten, desto allgemeiner wurde naturgemäß die Unterhaltung. Schließlich fanden sich alle an einem Tisch wieder, sogar Pjotr Pawlowitsch, jeder goss sich ein Glas ein, und wie auf Kommando wurde es still, als Wanja Dobroljubow ansetzte – zu einem Toast, oder zu einer Rede, jedenfalls lauschten alle, auch Olessja Grunt wandte ihre wunderbaren, verlogenen Augen nicht von ihm ab.
Ich, begann Iwan Eduardowitsch Dobroljubow, baue Häuser, und jeder weiß, dass es in dieser Stadt keine besseren Häuser gibt als meine. Ihr wohnt ja selbst alle darin, und diejenigen, die noch keine Wohnung bei mir haben, wünschen sich nichts mehr als möglichst schnell eine zu beziehen. Wo habt ihr denn früher gehaust? Du, Tima, einmal ausgenommen, ich weiß, du hast es auch früher schon gut gehabt in Stalins Wohnwolkenkratzer in Kotelniki, aber der Rest? Chruschtschows stinkende Fünfgeschosser mit den klitzekleinen genormten Grundrissen, das war euer Zuhause, Baracken mit Holzheizung und einem schiefen Plumpsklo ganz hinten im Hof,
umgebaute Obdachlosenunterkünfte ohne Telefon (an so etwas war gar nicht zu denken), Wohnheime von Sowchosen, Wohnheime von Fabriken,
Internate mit ganzen Reihen winziger Zimmerwürfel und einer Küche für die ganze Etage, vollgepisste Hauseingänge mit vollgeschissenen Fahrstühlen;
Dürftigkeit und Hässlichkeit, Erbärmlichkeit und Gestank, Widerwärtigkeit und Fäulnis, das war euer Leben.
Ich, Wanja Dobroljubow aus Joschkar-Ola, habe Häuser für euch gebaut. Exklusive Residenzen mit Penthäusern und verda… einer erstklassigen verdamm… Infrastruktur, mit Videoüberwachung verdammich… und Fitnessraum, verdammichundzugenäht, und mehr Garagen als Wohnungen, aber es reicht euch immer noch nicht, mit extra starken Zwischendecken für eure Whirlpools und drei Tonnen schweren Badewannen, mit venezianischem Stuck und hi… Carrara-Marmor in der Eingangshalle und himm… Säulen in den himmi… ganz nach euren Wünschen projektierten himmikruzi… Exklusivgemächern für gut betuchte Herrschaften himmikruzifixnochmal! Und denkt bloß nicht, das wäre schon alles, was ich gebaut habe.
Vielleicht wohnt ihr ja lieber in Bodennähe als in der Luft, bevorzugt ein Landhaus der Clubklasse, in einer Siedlung mitten im Wald, aber mit zentraler Versorgung, schnellem Internetzugang, Laden, Restaurant, Schule – alles da. Dann schreibt euch hinter die Ohren: Auch das habe ich gebaut.
Und die schicken Reihenhäuser in der Innenstadt ebenfalls.
Und die Herrenhäuser auf dem Lande, groß wie Paläste, mit Flussufer, Landschaftspark, etlichen Hektar Ländereien. Alles ich!
Ich, Iwan Eduardowitsch Dobroljubow, Jahrgang 1969, männlich, Russe, nicht abgeschlossene Hochschulbildung, habe euch gegeben, was euch am stärksten unterscheidet von euren Eltern, den Eltern eurer Eltern und sämtlichen Vorfahren, die in rußgeschwärzten Hütten unterm Strohdach Rauch schluckten und Kakerlaken zerquetschten, aber auch von euren Zeitgenossen, die weniger Schwein hatten als ihr, von denjenigen, die noch immer in den kostenlosen sowjetischen Wohnungen mit den schiefen Wänden und den dunklen Wasserflecken an den Decken hausen, und erst recht von den Obdachlosen: Ich habe euch menschenwürdigen Wohnraum gegeben! Autos sind wichtiger, sagt ihr? Und ich sage: Ein Dreck sind sie, eure ganzen deutschen, englischen, japanischen und was weiß ich noch für Blechkarossen! Meine ersten fünfzig waren geklaut, gleich hinter der Grenze gekauft, aber wenn du damit gegen einen Mast knallst, kannst du die Abschreibung vergessen. Ein Haus kriegt man nicht klein mit einem Verkehrsunfall! Elitärer Wohnraum, das ist die lichte Zukunft, an der sich alle so lange versucht haben. Aber hingekriegt, hingekriegt habe sie nur ich! Elitäres Wohnen heißt elitäre Zukunft, merkt euch das, ihr Kretins! Ich habe euch zur Elite gemacht, ich, nicht euer Jelzin. Ganz konkret ich.
Trotzdem ist das alles Scheißdreck.
Weil man an die Seele denken muss, Kumpels. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich rede, und ich wette mit jedem, dass ohne Seele alles Scheiße ist, wie bereits oben gesagt.
Also kurzum, ich habe über die Seele nachgedacht. Und begriffen, was sie braucht, meine Herren. Den Himmel braucht sie, das ist es. Ein Haus, ein normales Haus, und sei es noch so gut, bleibt immer eine Höhle, die man zur Reduzierung der Schachtarbeiten nicht in, sondern auf die Erde baut. Und egal, wie viele Etagen man hochzieht – zwanzig, vierzig oder hundertvierzig –, es ist trotzdem nur eine Aufschüttung des Bodens, ein künstlicher Berg mit künstlichen Höhlen, und wir, die wir darin leben, sind Wilde, die sich feige in der Erde festkrallen, sich für immer auf ihr niedergelassen haben.
Dabei muss der Mensch im Himmel leben. Dort geht es der Seele gut, hat sie es hell und geräumig. Sie versucht sich schon einmal peu à peu an die zukünftigen Wohngefilde zu gewöhnen, indem sie nachts aus dem Fenster fliegt, in den auf- und absteigenden Luftströmen herumrudert, allerdings nur auf der Höhe des jeweiligen Stockwerks. Normalerweise müssen menschliche Seelen, um, wie es sich gehört, den Körper über Nacht zu verlassen, Rauchfänge oder Ventilationsschächte benutzen, was nicht gerade Spaß macht. Wir gehören in den Himmel, dort ist unser Zuhause. Und man sollte nicht warten, bis man dorthin gerufen wird, bis einem die Ärzte die Einladung überreichen und die Geistlichen beim Packen helfen, sondern den Umzug in eigener Initiative und mit meiner Hilfe meistern.
Und jetzt hört alle genau zu
Die Offene Aktiengesellschaft Babylon baut in Moskau das höchste Haus der Welt. Dieses Haus verbindet Erde und Himmel. Nur noch Restplätze frei! Flexibles Rabattsystem! Reiche zum Himmel empor!“
Iwan Eduardowitsch verstummte und schaute sich um. Im Club herrschte erstaunliche Ruhe, viele Tische waren leer, die meisten Bekannten bereits gegangen. Die wenigen, die Dobroljubow noch sah, beachteten ihn überhaupt nicht, als sei es nicht er gewesen, der gerade diese kühnen, furchtbaren Worte gesprochen hatte. „Womöglich“, schoss es dem plötzlich verunsicherten Gottesverächter durch den Kopf, „habe ich das alles gar nicht laut gesagt, sondern nur in Gedanken?“
Aber Timofej Bolkonski schien etwas zu Ohren gekommen zu sein. Er saß in seiner Ecke, kaute versonnen an seiner Zigarre, ließ die Ohrringe schaukeln, strich sich über das Spitzbärtchen, sah Iwan aufmerksam an und sagte schließlich:
„Also das muss man dir lassen, Wanja, als PR-Mann bist du große Klasse. Ich wollte dich nur fragen, ob dich nicht beunruhigt, dass …“
„Was denn?“, unterbrach ihn Dobroljubow hastig. Ihm dämmerte bereits, was der junge Bolkonski meinte, aber er sträubte sich, es zu verstehen. „Was soll mich denn beunruhigen? Der Untergrund ist felsig, das hat die geologische Tiefenerkundung gezeigt. Und im Gutachten der Akademie …“
„Die Akademie kannst du vergessen“, lachte der belesene Tima spöttisch auf. Du kennst doch das Ergebnis des ersten Versuchs?! Das musst du ganz einfach kennen.“
Dobroljubow wollte Bolkonski zum Teufel schicken, kam aber nicht dazu, weil zwischen ihnen plötzlich ein unbekannter junger Mann im schwarzen Lederjackett über dem ebenso schwarzen T-Shirt auftauchte. Mit seinem feisten grünlich-bleichen Gesicht und dem runden, kahlgeschorenen Schädel sah der Unbekannte aus wie eine Raupe.
„Hör mal, Kumpel“, wandte sich der Raupenmann an Dobroljubow, „deine Firma heißt Babylon, stimmt’s? Ich wollte dich schon lange fragen, was dieses Babylon eigentlich bedeuten soll. Das kommt von Lohn, oder? Ein
Quadratmeter kostet doch bei dir dort mehr als mancher Jahreslohn. Wir sollen alle reichlich löhnen, das meint dein Babylon, oder? Und du baust dann aus ganz viel Lohn von uns dein Babylon, oder?“
Wieder kam Dobroljubow nicht zu einer Antwort, weil sich hinter dem Rücken
des neugierigen Raupenmannes Tima Bolkonski einmischte. „Wenn es von Lohn käme, müsste Babylohn dastehen“, erklärte der Erbe reicher Kulturtraditionen, „Iwans Babylon soll an ein Lied erinnern. Es gibt da nämlich so einen Song, weißt du: Oh, Babylon! Yea! Tam-tam-ta-ta …Oh, Babylon …
Yea!“
Der Raupenmann strahlte förmlich vor Freude. „Mann, klar! Bin bloß nicht gleich drauf gekommen. Die Beatles, klar, das kennt man doch! Oh, Babylon! Yea! Also, Kumpel, du weißt wirklich alles, oder?. Oh, Babylon …“
Fast hätte sich Iwan Dobroljubow auf den Blödmann gestürzt, aber er kam nicht dazu. Weil der plötzlich verschwand. Und nicht nur er, sondern auch Tima Bolkonski und Woloditschka Trofimers Club mit allen Gästen, von denen viele, wie gesagt, schon früher gegangen waren. Alles, überhaupt alles verschwand.
Und bald darauf endet auch diese Geschichte, bei der von Anfang an klar war, wie sie ausgehen würde.
Der Bau wuchs und wuchs und erreichte am Ende fast den Himmel, so dass die Wolken, besonders die niedrigen Regen- und Schneewolken, über die dunklen Mauern krochen, um von ihnen zerfetzt zu werden. Der Himmel färbte sich schwarz, hoch droben flammten glutrote Lichter, vielleicht elektrische Entladungen in der Atmosphäre, vielleicht die Neonbuchstaben des Reklame-Schriftzuges BABYLON oder die Zahlen der verfluchten Telefonnummer mit den drei Sechsen. Rief man diese Nummer an, hörte man am anderen Ende der Leitung furchtbares Geschrei und ein Fauchen und Heulen, als lodere ein Feuer. Auf der Galerie wuselten noch immer winzige Menschen, hastig bemüht, die Bauarbeiten zum Abschluss zu bringen. Manche schauten nach oben zum Himmel, manche nach unten auf die Erde, aber sie verständigten sich jetzt nicht mehr in Russisch, vermieden es, in dieser Höhe das zärtliche „Arschloch“ und all die anderen unabdingbaren russischen Worte zu gebrauchen, sie schämten sich, redeten in ihren eigenen Sprachen und verstanden einander nicht mehr. Die Tadschiken, für die es nichts mehr auszuschachten gab und die nun als Hilfskräfte für Be- und Entladearbeiten eingesetzt waren, verstanden die lispelnden Moldawier nicht, den Ukrainern schien, die Armenier würden statt zu sprechen husten, die zur Unterstützung der auswärtigen Arbeitskräfte angeheuerten Russen aus Rjasan ächzten nur mit vielen „ohs“ und mussten hundertmal nachfragen. Das war der Anfang vom Ende.
Der Bau wurde schließlich stillgelegt. Die Aktien der verschuldeten OAG Babylon fielen an die Stadt, was dann damit wurde, ist unbekannt. Die Investruine sollte eigentlich abgerissen werden, aber es fehlte das Geld dafür, und während man noch damit beschäftigt war, Mittel aufzutreiben und die Angriffe der über die verhunzte Stadtsilhouette empörten Öffentlichkeit
abzuwehren, löste sich das Problem von allein.
Die Mauern begannen einzusinken, bröckelten …
Auf den Steinen siedelten sich dünne Bäumchen an, in den Ruinen nisteten riesige Vögel, wie man sie hier noch nie gesehen hatte …
Leise raschelnd flossen Rinnsale aus Sand …
Windböen trugen die Körnchen fort …
Und Babylon ging unter, wie es untergehen musste.
Dobroljubow kann einem leid tun, das ist schon wahr. Er hatte eine Vision, wollte Höhe, Höhe, wie es in dem Lied vom Piloten heißt, aber sein Traum fand keine Erfüllung. Andererseits kommt Hochmut immer vor dem Fall. Und schließlich hat er ja auch nicht allzu sehr gelitten, wie man hört. Er soll angeblich noch geschäftlich aktiv sein, auf Zypern, wo er Hochhäuser saniert und unterhält. Hauptsache, er will nicht wieder zu hoch hinaus.
Wir sind schlimmer dran.
Die Sprachen haben sich verwirrt, die Menschen verstehen einander nicht mehr. Man geht die Straße entlang – und ringsum lauter Fremde. Den Himmel haben wir nicht erreicht, aber die Erde verloren. In der Höhe über den Mauern hängt Finsternis, in der Finsternis über den Mauern leuchten Lichter, die Steine zerfallen zu Staub, und bald gibt es keine Stadt mehr. Dabei ist sie einmal da gewesen.